Wilhelm Jensen

Jensen, Wilhelm Hermann.

Der vergessene Autor und sein Lebensthema - eine Fundgrube für Sigmund Freud.

Geboren in Heiligenhafen am 15. Februar 1837
Gestorben in München am 24. November 1911

Wilhelm Jensen, ein heute überwiegend in Vergessenheit geratener Romancier des 19. Jahrhunderts, hat eine ebenso ereignisreiche wie intensiv von Schleswig-Holstein geprägte Biografie: Er war der uneheliche Sohn des deutsch-dänischen Spitzenbeamten und damaligen Kieler Bürgermeisters Schwen Hans Jensen, der später Landvogt von Sylt wurde (und den Margarete Boie zum Protagonisten ihres Buchs Die letzten Sylter Riesen macht), und wurde im Alter von drei Jahren von der Kieler Honoratiorenfamilie Moldenhawer adoptiert. Er besuchte in Kiel und Lübeck die Schule und beendete sein in Kiel begonnenes und in Würzburg, Jena und Breslau fortgesetztes Studium 1860 mit einer Promotion über das Nibelungenlied. Danach soll sich der aufstrebende Schriftsteller mit der Bitte um Unterstützung an zwei Kollegen gewandt haben, die als gebürtige Schleswig-Holsteiner im Süden des deutschen Sprachraums ihre literarische Heimat gefunden hatten: Friedrich Hebbel und Emanuel Geibel. Obwohl der erstere nicht reagierte, widmete Jensen ihm später ein Gedicht, das mit einigem Pathos und in antikisierendem Versmaß das Los des verkannten Genies zelebriert – hier wird sich der ebenfalls im Heimatland unglückliche Dichter wohl mitgemeint haben:

Armer, dem Boden der Heimat entrückt, die dich nimmer verstanden,
Hier an das fremde Gestad’ warf dich die Welle der Zeit.

Wilhelm Jensen: An Friedrich Hebbel. In: Gedichte. Stuttgart: Kröner 1869, S. 154, V. 1–2.

Geibel hingegen antwortete und lud Jensen nach München ein, wo dieser 1863 eintraf. Es folgten einige Stationen in Süddeutschland und Österreich, bevor Jensen 1869 in seine alte Heimat zurückkehrte: Zunächst war er in Flensburg als Leiter der anti-dänischen Flensburger Norddeutschen Zeitung, später in Kiel als freier Schriftsteller tätig. 1876 kehrte er dem Norden erneut den Rücken und zog nach Freiburg im Breisgau und später wieder nach München, wo er auch verstarb.

Wie viele Schriftsteller*Innen des 19. Jahrhunderts, die ohne institutionelle oder persönliche Absicherung von ihrer Kunst leben mussten, war Jensen ein ausgesprochener Vielschreiber. Auch wenn ein Großteil seines Werks aus Novellen besteht, ist diese Bezeichnung irreführend, zumindest, wenn man sie mit den meist knapperen Werken seines Zeitgenossen Theodor Storm, mit dem er befreundet war, vergleicht: Jensens Novellen könnten ebensogut als kurze Romane bezeichnet werden, während seine Romane oft etliche Bände umfassen, und insgesamt hat er über 140 Bände veröffentlicht. Thematisch ist das Werk ausgesprochen vielfältig: Jensen interessiert sich für historische Stoffe vom Mittelalter bis in seine jüngste Vergangenheit, und seine Schauplätze umfassen den gesamten deutschsprachigen Raum, aber auch Europa, Grönland, das preußische Kolonialreich #1 und andere. Wie in seinem Leben kehrt Jensen aber auch in seinen Werken immer wieder in den Norden zurück: Seine besondere Vorliebe gilt Lübeck und der Hanse (Aus Lübecks alten Tagen, 1868; Aus den Tagen der Hansa, 1886), aber auch Sylt (Die Namenlosen, 1873), Flensburg (Sonne und Schatten, 1871) sowie etliche andere schleswig-holsteinische Orte sind Schauplätze seiner Romane und Novellen. #2 Mit Kiel hat sich Jensen unter anderem in der Novelle Aus meiner Vaterstadt. Die Persianischen Häuser auseinandergesetzt, und der Erzähler kommt zumindest für die Altstadt zu einem vernichtenden Urteil:

Schön war sie niemals, ist sie auch nicht geworden und wird sie nie werden. Allen Straßen in ihr fehlt Licht und Luft, sie sind eng, dumpf und trübsinnig, ohne alterthümlichen Reiz. […]. Den zwischen ihnen Gehenden überkommt es melancholisch, doch nicht mit der elegisch-poetischen Schwermüthigkeit, die wohl andere alte Städte Schleswig-Holsteins durch ihren Anblick wecken, sondern nur mit einem Gefühl, als sei das Menschendasein einzig Mühe und Arbeit, eine Werkelwoche ohne Festtag und ohne Freude.

Wilhelm Jensen: Aus meiner Vaterstadt. Die persianischen Häuser. Breslau: Schottlaender 1889, S. 6.

Besser gefällt es ihm im Norden der Stadt, im damals noch am Stadtrand befindlichen Düsternbrook:

Alles ist freundlich, freudig, schön. Als hätte die Ostsee große, hellschimmernde Perlen an den Strand geworfen, reihen sich am Ufer hin freistehende, gärtenumgebene, oft prächtige Häuser; der Sommermorgen bettet sie in eine grüne, lachende Welt.

Ebd., S. 7.

All das ist für Jensen aber nur ein Anlass, um sich der literarischen Geschichte Kiels zu widmen: In einem Haus in der Altstadt findet der jugendliche Erzähler unverhofft ein Sonett von Paul Fleming, was ihn dazu bewegt, dessen Ankunft in Kiel und seine anschließende Russland- und Persienreise mit Adam Olearius zu imaginieren. Durch die Rahmenhandlung wird das literarhistorisch so bedeutsame Geschehen mit der Gegenwart verbunden: Die (heute nicht mehr vorhandenen) „persianischen Häuser“ am Alten Markt sind in der Novelle Beleg für die ruhmreiche Vergangenheit Kiels, die aber in der Gegenwart des Erzählers, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in Vergessenheit zu geraten droht.

In seinem Roman Unter der Tarnkappe, der in einer Kleinstadt in Ostholstein spielt, wagt sich Jensen direkter an die Zeitgeschichte: Er thematisiert die Schleswig-Holsteinische Erhebung von 1848 bis 1851, aber auch die beginnende Industrialisierung und den Gegensatz von Stadt und Land:

Seit einigen Jahren arbeitete sich auch von Kiel nach der Kleinstadt zweimal wöchentlich durch und über alle Weghindernisse eine fahrende Post, die ‚gelbe Kutsche‘ geheißen, ihrem Ziel ungefähr mit der Geschwindigkeit einer […] Kröte entgegen; […] ihre, vom Postillon mit der Trompete gemeldete Ankunft machte immer noch das gewichtigste Wochenereigniß aus. Auf ihren Rädern rasselte mit dem ‚Wochenblatt‘ über das dröhnende und krachende Pflaster Kunde aus unbekannten Erdfernen ein, zu denen für den größeren Teil der Einwohnerzahl eigentlich schon die nie gesehene Stadt Kiel gehörte, von der es wie eine unglaubhafte Sage umging, daß man aus ihr neuerdings auf eisernen Strängen in Wagen, die nicht von Pferden, sondern von Rauch gezogen würden, durch ganz Holstein […] binnen vier Stunden bis nach Altona hinüberfahren solle.

Wilhelm Jensen: Unter der Tarnkappe. Ein schleswig-holsteinischer Roman aus den Jahren 1848–1850. 2 Bde. Dresden: Carl Reißner 1906, S. 8f.

Den sich hier andeutenden technologischen und medialen Umbrüchen der Moderne geht Jensen ansonsten eher aus dem Weg. Sein einziges wirklich zeitgenössisches Werk, die patriotische Gedichtsammlung Lieder aus Frankreich, ist eine Ausnahme und leidet unter dem Umstand, dass der in der Erstauflage anonyme Autor zwar suggeriert, am deutsch-französischen Krieg von 1870 teilgenommen zu haben, dies für Jensen jedoch nicht zutrifft. Die Versenkung in der Vergangenheit bedeutet jedoch nicht, dass Jensen ein eskapistischer Schriftsteller gewesen wäre, der sich für die Fragen der Gegenwart nicht interessiert. Seine politischen Positionen – deutschnational, rationalistisch, anti-kirchlich – scheinen auch in seinen historischen Romanen und Novellen durch. So dürfte es für die vielen Leser*Innen seines erfolgreichsten Werks, der Novelle Karin von Schweden (1872), kein Problem gewesen sein, die Parallelen zwischen der im Text geschilderten Auseinandersetzung zwischen freiheitsliebenden Schweden und bestialischen Dänen im 16. Jahrhundert und der schleswig-holsteinischen Gegenwart zu sehen.

Es mag sein, dass diese unproblematische Überblendung von Historie und Gegenwart, die wir in etlichen von Jensens Texten finden, für heutige Leser*Innen nicht mehr funktioniert; es mag auch sein, dass Jensens Stern schon zu Lebzeiten zu sinken begann. Jedenfalls ist er heute trotz seiner gewaltigen Produktion weitgehend unbekannt, und selbst seine besten, durchaus stimmungsvollen Novellen wie Karin von Schweden oder Magister Timotheus werden kaum mehr gelesen. Kurioserweise ist es heute hauptsächlich eine eher weniger gelungene Erzählung, die einen gewissen Bekanntheitsgrad behalten hat, wenn auch nicht durch Jensens eigenes Zutun: 1907 macht sich der aufstrebende Psychoanalytiker Sigmund Freud daran, die Brauchbarkeit von Literatur für die Erforschung des Unbewussten zu untersuchen. Insbesondere der fiktionalen Darstellung von Träumen misst er eine hohe Bedeutung bei:

Wertvolle Bundesgenossen sind die Dichter und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen […]. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.

Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. Mit dem Text der Erzählung von Wilhelm Jensen. Hrsg. v. Bernd Urban und Johannes Cremerius. Frankfurt am Main: Fischer 1973, S. 90.

Als Anschauungsmaterial dient Freud eine späte Novelle von Jensen, sein „pompejanisches Phantasiestück“ Gradiva (1903). Wie die Korrespondenz von Freud und Jensen belegt, #3 reagiert der alternde Dichter erfreut, aber auch mit etwas Skepsis, als seine Novelle auf die Couch gelegt wird, und umgekehrt hat sich Freud später eher herablassend über den Text geäußert. Dennoch ist die durch die Psychoanalyse geadelte Gradiva heute wohl der Text Jensens, der am meisten dazu beiträgt, den Dichter vor der Vergessenheit zu bewahren, während der gewaltige Rest seines Werks, lange Zeit als „literarische Unterhaltung“ abgetan, auf seine (Wieder-)Entdeckung wartet. In seiner Geburtsstadt Heiligenhafen ist in Ufernähe eine Straße nach Jensen benannt.

7.3.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Der späte Roman Brandenburg’scher Pavillon hoch! (1902) ist eine mit den üblichen rassistischen Versatzstücken arbeitende Apologie des frühen deutschen Kolonialismus.

2 Vgl. die ausführlichere Darstellung in Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 3.2: 19. Jahrhundert. In Preußen und im neuen Reich. Neumünster: Wachholtz 2004, S. 185 ff.

3 Diese ist dokumentiert im Vorwort von Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. Mit dem Text der Erzählung von Wilhlem Jensen. Hrsg. v. Bernd Urban und Johannes Cremerius. Frankfurt am Main: Fischer 1973.