Emanuel Geibel

Geibel, Emanuel

In Vergessenheit geratener lyrischer Erfolgsautor aus Lübeck

Geboren in Lübeck am 17. Oktober 1815
Gestorben in Lübeck am 06. April 1884

In der Literaturgeschichte Schleswig-Holsteins ist Emanuel Geibel möglicherweise der Autor mit dem dramatischsten Verfall des Bekanntheitsgrads: Während er zu Lebzeiten einer der größten literarischen Stars überhaupt war, der für seine Lyrik (und in geringerem Ausmaß für seine Dramen) gefeiert wurde, begann bald nach seinem Tod nicht nur sein Stern zu sinken, sondern er wurde geradezu zum Inbegriff eine zweitrangigen, epigonalen Dichters. Ein Blick auf seine Repräsentation in Lübeck illustriert diesen Abstieg: Fünf Jahre nach seinem Tod wurde der heutige Koberg im Zentrum der Altstadt in „Emanuel-Geibel-Platz“ umbenannt und mit einer Prachtstatue des Dichters und Ehrenbürgers der Stadt Lübeck versehen. 1936 wird die Benennung jedoch wieder rückgängig gemacht und das Denkmal entfernt: „Dessen einziges Überbleibsel ist, allem zusätzlichen Schmuck beraubt, die Guss-Figur, die in einer Ecke am Platzrand deponiert wird. Dort steht sie, repräsentativ für Geibels allgemeinen Stellenwert, bis heute.“#1

Der früher so verehrte und später so vernachlässigte Dichter wurde 1815 in Lübeck, genauer gesagt in der Fischstraße 25, mitten in der Altstadt, geboren. In autobiografischen Versen beschreibt der am Ende seiner Laufbahn stehende Poet, wie er als Kind auf dem Dach des Elternhauses erstmals zu dichten begann:

Dort auch ward ich zuerst von der Muse berührt und die Fülle
Nimmer vergess’ ich des Glücks, die wie ein Rausch mich befing,
Als im erregten Gemüth freiwillig die Reime sich fügten
Und der Gedanke von selbst rhythmisch zu fließen begann.
Nichts war Mühe dabei. […]

Emanuel Geibel: Ein Buch Elegien. In: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 5, Stuttgart: Cotta 1883, S. 89.

Dass Geibel das Dichten von Anfang an so leicht fiel, ist sicherlich auch dem Milieu zu verdanken, in dem er aufwuchs: Sein Vater ist, obwohl nicht aus Lübeck stammend, als Pastor der Reformierten Gemeinde eine wichtige und einflussreiche Figur in der Stadt, und seine Mutter stammt aus einer großbürgerlichen Lübecker Familie und nimmt aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. Beide legen Wert auf die Förderung ihres talentierten Sohnes: Geibel bewegt sich von klein auf in gebildeten und kunstsinnigen Zirkeln und besucht mit dem Katharineum die beste Schule der Stadt. Entsprechend reibungslos gestaltet sich im Anschluss seine akademische Bildung: Nach Studien in Bonn und Berlin erhält Geibel, ohne eine Dissertation abgeliefert zu haben, in absentia einen Doktortitel in Jena. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach Griechenland, wo er durch Vermittlung Bettina von Arnims eine Stelle als Hauslehrer antritt. Wenngleich Geibel dort nicht nur Gedichte schreibt, sondern auch antike Autoren nachdichtet und diese Übersetzungen unter dem akademisch klingenden Titel Klassische Studien veröffentlicht, ist zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass er keine wissenschaftliche Karriere anstrebt, sondern die eines Schriftstellers. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1840 erscheint die erste Auflage seines Lyrikbandes mit dem schlichten Titel Gedichte. Der Fünfundzwanzigjährige trifft hier bereits den Ton, der dauerhaft zu seinem Markenzeichen werden sollte: Eine an klassischen Formen gebildete, dabei aber zugängliche Lyrik, die ihre liedhafte Einfachheit oft mit einem gewissen Pathos verbindet. Nicht selten begegnet uns auch eine Überhöhung des Dichtertums, die von Geibel nicht ohne Sinn für Strategie eingesetzt wird:

Siehst Du das Meer? Es glänzt auf seiner Fluth
Der Sonne Pracht,
Doch in der Tiefe, wo die Perle ruht,
Ist finstre Nacht.

Das Meer bin ich. In stolzen Wogen rollt
Mein wilder Sinn,
Und meine Lieder ziehn wie Sonnengold
Darüber hin.

Sie flimmern oft von zauberhafter Lust,
Von Lieb’ und Scherz;
Doch schweigend blutet in verborgner Brust
Mein dunkles Herz.

Emanuel Geibel: Siehst du das Meer. In: Gedichte. Zweite vermehrte Auflage. Berlin: Duncker 1843, S. 127.

Die Gedichte wurden ein großer und dauerhafter Erfolg – bis zum Tod des Dichters sollten mehr als 100 weitere Auflagen folgen. Ab der zweiten Auflage enthält der Band auch Geibels bis heute populärste Schöpfung, das Wanderlied Der Mai ist gekommen. Noch wichtiger als die guten Verkaufszahlen ist aber die politisch-gesellschaftliche Positionierung, die Geibel mit dem Band gelingt: Laut Renate Werner bringt er sich bei der konservativen Elite als „Antipode der als staatsgefährdend geltenden politischen Poesie“ der Zeit ins Spiel. #2 Das hat unmittelbare Konsequenzen für seine Lebensführung. „Geibel war der wohl einzige deutsche Autor, der im bürgerlichen 19. Jahrhundert lebenslang überwiegend von aristokratischen und monarchischen Stipendien gelebt hat“, #3 und das nicht schlecht: Als er 1852 nach München an den Hof Maximilians II. von Bayern berufen wird, bekommt er nicht nur ein üppiges Stipendium, sondern auch regelmäßigen Zugang zum und Einfluss beim König sowie eine Ehrenprofessur für Literatur. 1868 verschlechtert sich unter Maximilians Nachfolger Ludwig II. seine Stellung am Hof, aber Geibel kann nun seine preußenfreundliche Gesinnung herausstellen, seinen „Ehrensold“ künftig vom preußischen Hof beziehen und nach Lübeck zurückkehren: Er lebt zuletzt in der Königstr. 12, nicht weit vom heutigen Standort der Geibel-Büste.

Dass der patriotisch gesinnte und von Monarchen alimentierte Geibel mit seiner Dichtung beansprucht, ein ideelles Deutschland zu repräsentieren, mag erklären, dass konkrete Bezüge zu seiner schleswig-holsteinischen Heimat in seinem Werk eher spärlich vertreten sind. Symbolisch aufgeladene Orte wie der Rhein oder Rothenburg ob der Tauber tauchen hier häufiger auf als die Landschaften des Nordens, und wenn es das lyrische Ich doch einmal an das Meer verschlägt, geht es dem Dichter eher um allgemeingültige Betrachtungen als um die Auseinandersetzung mit dem Konkreten:

In dem Gebrause des Winds und der Flut eintönigem Rauschen
Ahn ich der Weltmelodie dunkel verhallenden Laut.

Emanuel Geibel: Distichen vom Strande der See. In: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 5, Stuttgart: Cotta 1883, S. 54.

Dennoch gibt es konkretere Auseinandersetzungen mit der Umgebung Lübecks. So hat Geibel, sicherlich in Anknüpfung an Klopstock, eine Ode über den Ukleisee bei Eutin gedichtet:

Von Hügeln dicht umschlossen, geheimnißvoll
Verhüllt in Waldnacht dämmert der Ugleysee,
                ein dunkles Auge, das zur Sonne
        Nur um die Stunde des Mittags aufblickt.

Emanuel Geibel: Der Ugley. In: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 5, Stuttgart: Cotta 1883, S. 62, V. 1–4.

Auch hier ist die Naturschönheit aber Teil eines wenig subtilen politischen Programms, wie im weiteren Verlauf des Gedichts deutlich wird, wenn der See Auslöser eines patriotisch-historischen Bekenntnisses wird:

Und selbst der Mann, der nimmer ein groß Gefühl
Vergeudend, deinen Namen, o Vaterland,
                Nur selten ausspricht, weil am Markt ihn
        Täglich die Zunge der Schwätzer mißbraucht,

Hier strömt der sonst Wortkarge dem Freunde wohl,
Als hätt’ ein Gott ihm plötzlich das Herz gelöst,
                Die tiefe Sehnsucht aus, und redet
        Von den verschollenen Reichskleinoden.

Emanuel Geibel: Der Ugley. In: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 5, Stuttgart: Cotta 1883, S. 62, V. 21–28.

In dieser politischen Variante findet Schleswig-Holstein auch sonst in Geibels Werk Erwähnung, am direktesten im Langgedicht Ein Ruf von der Trave (1845), den Zwölf Sonetten für Schleswig-Holstein (1846) und dem Protestlied für Schleswig-Holstein aus den Juniusliedern (1848) , die sich direkt und martialisch in den Konflikt mit Dänemark der 1840er Jahre einschalten:

Wir tragen Muth im Herzen tief,
Und Schwerter in den Scheiden.
Von unsern Lippen soll allein
Der Tod dies Wort vertreiben:
Wir wollen keine Dänen sein,
Wir wollen Deutsche bleiben.

Emanuel Geibel: Protestlied für Schleswig-Holstein. In: Juniuslieder. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1848, S. 146.

Man kann davon ausgehen, dass auch dieser auf deutsche Einigkeit abzielende, vehemente Patriotismus Geibel in seiner Zeit berühmt gemacht hat, und es ist auch plausibel, dass er nach der deutschen Reichsgründung an Dringlichkeit eingebüßt hat, was wiederum die nachlassende Wertschätzung des Dichters erklärt. Insgesamt geht es mit dem Ruhm Geibels nach seinem Tod schnell bergab: Der bedeutendste Literaturwissenschaftler des frühen Kaiserreichs, Wilhelm Scherer, gab 1884 eine von ihm gehaltene Rede auf Geibel heraus, in dem er dem gerade Verstorbenen bescheinigt, er habe „oft das Wort gefunden, das in allen Herzen widerklang.“#4 Aber schon Oskar Walzel, der Scherers unvollendete Literaturgeschichte abschloss, kritisiert den „wissentlich epigonenhaften Eklektizismus“ von Geibel und seinem Kreis: „Der Mut, aus Eigenem einen neuen Stil zu erzeugen, war dahin.“ #5 In ähnlicher Weise ging die literarische Entwicklung über ihn hinweg. Der spätere Naturalist Arno Holz hatte als junger Mann noch ein Gedenkbuch herausgegeben, in dem er das Ableben Geibels mit markigen Worten beklagte:

O, nun ist todt der letzte Dichter
Und mit ihm auch – die Poesie!

Arno Holz: [Gedenkgedicht auf Emanuel Geibel]. In: Emanuel Geibel. Ein Gedenkbuch. Hrsg. v. Arno Holz. Berlin, Leipzig: Parrisius 1884, S. 303.

Dass diese Worte sich bald nach Erscheinen von Holz’ Versen bewahrheiteten, freilich nicht in der beabsichtigten Weise, daran hatte der junge Dichter selbst Anteil: Spätestens seit den radikalen Werken des Naturalismus, die Holz und andere in den folgenden Jahren vorlegten, war „Poesie“ im altmodischen Geibelschen Sinne vielleicht tatsächlich unmöglich geworden. In neueren Darstellungen des Literaturlands Schleswig-Holsteins in Buchform nimmt Geibel nur einen Randplatz ein: Hans Peter Johannsen bekundet knapp, dass die Lübecker Geibel und Gustav Falke ihren literaturgeschichtlichen „Logenplatz [….] nicht bewahren konnten“, #6 und in Kay Dohnkes Schleswig-Holstein literarisch kommt er gar nicht vor. Horst Joachim Frank würdigt Geibel zwar gewohnt minutiös und ausführlich, aber unter dem Titel „Vergänglicher Ruhm“ #7. Noch in jüngster Zeit ist Geibel in einem Aufsatztitel als „zu Recht vergessen“ bezeichnet worden,#8 aber hier geht die Polemik vielleicht etwas zu weit: Alleine die Tatsache, dass ein für seine Zeitgenoss*Innen so bedeutender Dichter überhaupt so sehr vergessen werden konnte, sollte ihn für uns heute interessant machen.

2.3.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Christian Volkmann: Emanuel Geibels Aufstieg zum literarischen Repräsentanten seiner Zeit. Stuttgart: Metzler 2018, S. 5.

2 Renate Werner: Art. „Geibel, Emanuel“. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 4, 2012.

3 Ebd.

4 Wilhelm Scherer: Emanuel Geibel. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1884, S. 7.

5 Oskar Walzel: Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod. Berlin: Askanischer Verlag 1920, S. 142.

6 Hans Peter Johannsen: Parkplätze der Literatur. Literarische Autoreise von Hamburg nach Kopenhagen. Flensburg: Christian Wolff 1969, S. 14.

7 Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 3.1: Im Gesamtstaat. Neumünster: Wachholtz 2004, S. 404–432.

8 Hermann Schlösser: Alabaster mit Kratzern. Zu Recht vergessen: Emanuel Geibel. Volltext 2/2018, S. 34–38.