Emkendorf

„Schreib mir doch, wie und wo Emkendorf liegt, ich find es nicht auf der Karte. Ich liebe mir dergleichen zu wissen.“#1 Als niemand geringeres als Goethe dies 1794 an Friedrich Heinrich Jacobi schrieb, war das kleine Emkendorf im heutigen Kreis Rendsburg-Eckernförde gerade erst dabei, zu einem Knotenpunkt der Kultur Schleswig-Holsteins zu werden. Heute ist der Ort leichter zu finden, und auch seine literarische Bedeutung ist gut dokumentiert: Auch ohne Goethe, der trotz Jacobis Drängens (und trotz seiner Vorliebe für holsteinische „Rinds- und Schweinszungen“, „fremde Käse“ und andere Leckerbissen #2) nie zu Besuch kam, etablierte sich das Gut Emkendorf im frühen 18. Jahrhundert als „eigentliche[s] Zentrum des geistigen Lebens“ in den Herzogtümern, #3 wenngleich es mit dieser Herrlichkeit relativ schnell wieder vorbei war. Federführend für diesen Aufstieg des eher abgelegenen Guts zwischen Kiel und Rendsburg war das Ehepaar, das seit 1783 hier schaltete und waltete: Friedrich Karl (Fritz) Graf von Reventlow und seine Frau Julia, geborene Schimmelmann. In ihrer Ehe manifestiert sich etwas, was der Emkendorf-Experte Dieter Lohmeier „Verbürgerlichung der Adelskultur“ #4 nennt und für die Blüte des Guts verantwortlich macht: Julia von Reventlow ist bürgerlichen (wenn auch extrem wohlhabenden) Ursprungs, und anders als sein Vater, der der Verbindung ablehnend gegenüberstand, war Fritz sehr gewillt, bei seiner Ehe über die Standesgrenzen hinwegzusehen – die beachtliche Mitgift aus dem Schimmelmannschen Vermögen, das seinerseits aus dem karibischen Zuckerhandel (und damit aus Sklavenarbeit) stammt, dürfte dabei geholfen haben. Der in Standesfragen tolerante Geist des Ehepaars sorgt dann auch dafür, dass die Reventlows auf dem Gut ihre besondere Gastlichkeit entfalten können, die Adeligen wie Bürgerlichen gleichermaßen gilt. Zuerst wird das Gutshaus allerdings umgebaut. Mit erheblichem Aufwand entsteht ab 1794 ein Komplex, der über die übliche Architektur eines Gutshauses weit hinausgeht: Ein „barockes Palais, das sich aufs Land verirrt hat“. #5 Dieses Juwel teilten die Reventlows großzügig mit ihren zahlreichen Gästen, die oft in großen Gruppen kamen und lange blieben. Zu ihnen gehörten etwa Friedrich Gottlieb Klopstock – vor Goethe der vielleicht größte Superstar der deutschen Literatur, der auch in Emkendorf schwärmerisch verehrt wurde –, Johann Kaspar Lavater und die Brüder Friedrich Leopold und Christian zu Stolberg. Als sich das Verhältnis zu Klopstock wegen seiner Befürwortung der französischen Revolution etwas abkühlte, nahm Matthias Claudius gewissermaßen seinen Platz als dichterische Führerfigur ein – sein berühmtes Abendlied hat er zwar trotz anderslautender Anekdoten nicht hier gedichtet, aber er war oft zu Gast und übernachtete im heute nach ihm benannten Haus des Gutsverwalters.

Wie hat man sich das Salonleben in Emkendorf im späten 18. Jahrhundert vorzustellen? In der Schilderung des bereits erwähnten Friedrich Heinrich Jacobi zeigt sich die Mischung aus Geselligkeit und großen persönlichen Freiräumen, die den Aufenthalt für so viele Geistesgrößen attraktiv machte:

Morgens früh um 5 Uhr nehme ich, wie zu Hause, meinen Thee und bleibe dann ungestört in der vollkommensten Einsamkeit und Stille bis um 10 Uhr. Etwas nach 10 versammeln sich Wirthe und Gäste zum gemeinschaftlichen Frühstück, und ich komme dann selten vor 12 Uhr wieder in mein Zimmer. Die Zeit von 12 Uhr bis halb 5 habe ich dann wieder für mich. Hierauf wird zu Mittag gegeßen und nach dem Mittagessen conversirt, wozu jeder seinen Mann sich aussucht nach Wohlgefallen, sich geselliger und ungeselliger verhält, nachdem er gestimmt ist. Die Zeitungsliebhaber versammeln sich an den Tagen da Zeitungen kommen um Reventlow, der immer willig ist sie nach der Reihe laut vorzulesen. An den Hauptposttagen, Mittwoch und Sonnabend, gehen damit anderthalb Stunden hin. […] Um 9 Uhr wird Thee getrunken, und 1 Stunde oder 1 ½ Stunden vorher wohl eine gemeinschaftliche Lectüre vorgenommen, oder wer Lust hat zieht sich in sein Zimmer zurück.

Brief von Friedrich Heinrich Jacobi an Christian Wilhelm Dohm vom 28. Dezember 1794. Zitiert nach Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 2: 18. Jahrhundert. Neumünster: Wachholtz 1998, S. 690.

Die Harmonie, die nach Innen herrschte, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Emkendorf auch die Polemik gepflegt wurde: Wie bereits erwähnt, fand die Toleranz der hier Versammelten bei Themen wie der Französischen Revolution ein Ende, und in religiösen Fragen machte sich eine antirationalistische Haltung breit, die von vielen Außenstehenden und ehemaligen Weggefährt*Innen beargwöhnt wurde. Von Johann Heinrich Voß stammt die Charakterisierung Emkendorfs als einer „Schmiede für Geistesfesseln“,#6 und auch Goethes Vermeidung einer Reise hierhin hat mit seinen Vorbehalten gegenüber dem Emkendorfer Kreis zu tun.

Als Julia 1816 stirbt, ist es mit dem geselligen Beisammensein vorbei, und die schleswig-holsteinische Literaturgeschichte zieht an andere Orte weiter. Das Gut bleibt aber bis 1929 im Besitz der Familie Reventlow. Heute finden hier Konzerte und andere Veranstaltungen statt, und wer mag, kann im modernisierten Gutshaus auch herrschaftlich übernachten, etwa in der „Julia-Suite“ oder im „Claudius-Zimmer“.

Als kleines und kurzlebiges „Weimar des Nordens“ ist Emkendorf nicht nur in die Literaturgeschichte Schleswig-Holsteins eingegangen, sondern hat auch selbst literarische Bearbeitung gefunden. Von Charlotte Niese (1854-1934) stammt beispielsweise der Roman Schloß Emkendorf (1928).

IN DER UMGEBUNG

Emkendorf liegt in unmittelbarer Umgebung von Rendsburg (ca. 15 km). Nach Kiel (ca. 20 km) bestehen auch historische Verbindungen: Sowohl Fritz von Reventlow als auch sein Vater waren Kuratoren der Kieler Universität. Eine noch engere Beziehung besteht schließlich zu Altenholz bei Kiel, genauer gesagt dem im Gemeindegebiet liegenden Gut Knoop: Hier lebte Julia von Reventlows Schwester Caroline von Baudissin, die ihr Gut ebenfalls mithilfe des väterlichen Vermögens grundlegend umgestalten ließ, in diesem Fall mit einem klassizistischen Neubau.

25.11.2021 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Brief von Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi vom Dezember 1794. Zitiert nach Dieter Lohmeier: Der Emkendorfer Kreis. In: Ders.: Die weltliterarische Provinz. Studien zur Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins um 1800. Hrsg. v. Heinrich Detering. Heide: Boyens 2005, S. 45.

2 Brief von Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi vom Dezember 1794. Zitiert nach Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 2: 18. Jahrhundert. Neumünster: Wachholtz 1998, S. 681.

3 Jürgen Behrens: Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg. Neumünster: Wachholtz 1964, S. 56. Zitiert nach Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 2: 18. Jahrhundert. Neumünster: Wachholtz 1998, S. 667.

4 Dieter Lohmeier: Der Edelmann als Bürger. Über die Verbürgerlichung der Adelskultur im dänischen Gesamtstaat. In: Ders.: Die weltliterarische Provinz. Studien zur Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins um 1800. Hrsg. v. Heinrich Detering. Heide: Boyens 2005.

5 Lohmeier: Der Emkendorfer Kreis (wie Anm. 1), S. 59.

6 Johann Heinrich Voß: Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? Zitiert nach Lohmeier (wie Anm. 1), S. 50.