Dirk Knipphals

Knipphals, Dirk

Journalist und literarischer Erkunder der Vorstädte

Geboren in Kiel 1963

Auch wenn der Journalist und Autor Dirk Knipphals schon lange in Berlin lebt, hat er mit Kiel, der Stadt, in der er 1963 geboren wurde, nach eigenen Angaben „noch ein, zwei Rechnungen offen“. #1 Eine davon betrifft sein Geburtshaus in der Lerchenstraße, gleich beim Kieler Hauptbahnhof: Es fiel in den frühen 1980ern Jahren einer zweifelhaften Stadtentwicklungspolitik zum Opfer und ist heute vom Einkaufszentrum Sophienhof überbaut.

Dass Knipphals, der in Kiel und Hamburg Literaturwissenschaft und Philosophie studierte und seit 1999 Literaturredakteur der taz ist, sich ausgiebig mit seiner Herkunftsregion beschäftigt hat, merkt man auch seinen Büchern an: Sein erstes, Die Kunst der Bruchlandung (2014), ist eigentlich ein Sachbuch, das sich mit der immer größeren Selbstverständlichkeit von Krisen in unseren modernen Lebensentwürfen befasst, aber durch die teilweise autobiografische Verankerung des Texts geraten auch die räumlichen und sozialen Umgebungen, aus denen der Autor stammt, in den Blick. Da ist der Großvater, der „in einem kleinen Haus, das wohl eher einer Hütte glich, vor den Toren der Stadt“ aufgewachsen ist und der sich aus dieser beengten Position heraus die im Buch analysierten Krisen schlicht nicht leisten konnte: „Für individuelle Lebenskrisen war da kein Platz“. #2  Ganz anders sieht dann wiederum die vorstädtische Siedlung aus, in der der Enkel nach dem Wegzug aus der Lerchenstraße groß wird:

Wir sind in Rammsee, einem Wohngebiet, das zwei Kilometer vor dem Ortsschild der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel liegt und nach einem größeren Teich mit angrenzender Liegewiese benannt wurde, in dem wir als Kinder gebadet haben. Eine dieser typischen Eigenheimsiedlungen, die seit den sechziger Jahren vielerorts in die Landschaft der alten Bundesrepublik gesetzt worden sind.

Dirk Knipphals: Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind. Berlin: Rowohlt 2014, S. 133.

Diese Lebensform bringt natürlich eine ganz eigene, ihr gemäße Mentalität hervor:

In den Lebenskrisen der Vororte geht es um Ambivalenzen. Das Leben ist kompliziert geworden. Einerseits hat man alles, was man braucht, andererseits ist man nicht glücklich, jedenfalls nicht immer. Einerseits lebt man so, wie man immer leben wollte, andererseits weiß man manchmal gar nicht mehr, ob man wirklich so leben wollte, wie man jetzt lebt.

Dirk Knipphals: Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind. Berlin: Rowohlt 2014, S. 148f.

Mit genau dieser mentalen Verfasstheit beschäftigt sich Knipphals dann auch in seiner Prosa: Sein 2018 erschienener Debütroman Der Wellenreiter begibt sich in einen Vorort, der Rammsee ziemlich ähnlich sieht. Hier lebt der Gymnasiast Albert, der sich auf seiner Suche nach einem Platz in der Gesellschaft auch mit seiner suburbanen Lebenswelt auseinandersetzen muss. Diese erscheint ihm und seinen Freunden uninteressant, vorhersehbar und einengend:

„Bemüh dich nicht weiter“, sagte Katrin zu Felix. „Hier gibt es nur normal.“ Jetzt deutete sie auf jedes einzelne Haus: „Normal, normal, normal, normal.“ Und dann nuschelte sie noch eher für sich: „Herz der Finsternis.“

Dirk Knipphals: Der Wellenreiter. Roman. Berlin: Rowohlt 2018, S. 114.

Wie es hier in Form von Joseph Conrads Romantitel schon anklingt, spielt der literarische Kanon eine große Rolle bei der Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer Umgebung, besonders für Albert, der Schriftsteller werden will und besonders Thomas MannsTonio Kröger immer wieder heranzieht, um seine eigene künstlerische Identität zu finden. Dementsprechend stellt ein Besuch im altehrwürdigen Lübeck zu einer Lesung von Uwe Johnson, Günter Grass und Max Frisch einen entscheidenden Wendepunkt für Albert und gleichzeitig den Schlusspunkt des Romans dar. Aber die im Buch geschilderte éducation sentimentale beschränkt sich nicht auf Literatur – weitere entscheidende Erlebnisse verdankt der Protagonist einem Besuch auf der Insel Sylt und nicht zuletzt einem Schauplatz, der nicht weit von der Vorstadt entfernt liegt und trotzdem den größtmöglichen Kontrast zu dieser darstellt: Ein besetztes Haus am Kieler Hauptbahnhof, wo ein Punk-Konzert stattfindet. Die hier Versammelten machen ihre fundamentale Opposition zur vorstädtischen Lebensform mehr als deutlich:

Über dem Hauseingang hing ein buntes Protestplakat: ein Mann mit Hut, eine Frau, zwei Kinder, ein Hund, zwei Autos und ein Eigenheim waren zu sehen, x-förmig durchgestrichen mit dicken roten Pinselstrichen. Daneben stand: „Kein Abriss!!! Selbstbestimmtes Wohnen!!! Gegen 08/15-Normfamilien!!!“

Dirk Knipphals: Der Wellenreiter. Roman. Berlin: Rowohlt 2018, S. 198f.

Hier schließt sich gewissermaßen ein Kreis: Die Kieler Hausbesetzungen der frühen 80er Jahre fanden im Sophienblatt und in der Lerchenstraße statt, also genau dort, wo heute ein großes Einkaufszentrum Knipphals‘ Geburtshaus ersetzt hat. Der angehende Schriftsteller Albert jedoch kehrt vorerst in sein Vorortleben zurück, wenngleich ihm der Besuch in der Subkultur bei seiner Selbstfindung weitergebracht hat. In der Beschreibung dieses Lebens mit all seinen Sehnsüchten und Widersprüchen liegt die literarische Leistung des Romans – er ist darin Werken von Larissa Boehning (Lichte Stoffe, 2007) oder Svealena Kutschke (Gewittertiere, 2021) vergleichbar, die sich in jeweils ganz eigener Weise ebenfalls mit dem suburbanen Raum Schleswig-Holsteins auseinandergesetzt haben.

26.5.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Dirk Knipphals: Unsichere Seele. Porträt der Landeshauptstadt Kiel. die tageszeitung vom 8.5.2022, https://taz.de/Portraet-der-Landeshauptstadt-Kiel/!5849468/

2 Dirk Knipphals: Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind. Berlin: Rowohlt 2014, S. 19.