Svealena Kutschke
Kutschke, Svealena
Geschichten aus Lübeck, der Vorstadt und der Welt
Geboren am 9. August 1977 in Lübeck.
Svealena Kutschke trat nach einem Studium der Kulturwissenschaften und der Ästhetischen Praxis in Hildesheim literarisch zuerst 2008 in Erscheinung, als sie beim Berliner „Open Mike“ den zweiten Platz gewann. Im folgenden Jahr erschien ihr Debütroman Etwas Kleines gut versiegeln, in dem sie eine junge Fotografin durch eine künstlerische und persönliche Orientierungskrise und durch die Straßen und Bars von Sydney begleitet und sich dabei durch ein Spektrum von sehr unterschiedlichen queeren Lebens-und Identitätsentwürfen bewegt. Kutschkes zweiter Roman Gefährliche Arten, erschienen 2013, beschäftigt sich ebenfalls mit künstlerischer Sinnfindung und mit riskanten Existenzen abseits bürgerlicher Moralvorstellungen, aber der Tonfall ist dunkler und härter geworden: anders als im Erstlingswerk scheint für die Künstlerin Sasha, die zunehmend die Kontrolle über ihr Leben verliert, kaum ein versöhnlicher Ausweg möglich, und die Handlung ist geprägt von psychischer und körperlicher Gewalt.
Nach diesen beiden sehr gegenwärtigen und sehr kosmopolitischen Romanen – Etwas Kleines gut versiegeln spielt in Australien, Gefährliche Arten in China und in Berlin, wo die Autorin auch lebt – war es durchaus überraschend, dass sich Kutschke 2017 ausführlich und mit Verve ihrer Heimatstadt zuwandte: Der Roman Stadt aus Rauch entwickelt auf fast 700 Seiten eine unkonventionelle, geschichtsgesättigte Familiengeschichte vom 19. bis ins späte 20. Jahrhundert und bewegt sich dabei wie seine Hauptfiguren ganz überwiegend innerhalb der Lübecker Stadtgrenzen:
„Wir dürfen die Stadt niemals verlassen“, sagte Jessie, „wir zerfallen, wenn wir die Trave verlassen, keiner kommt hier lebend raus.“
Entsprechend zentral ist im Roman die Stellung der Stadt, die in bester Lübecker Literaturtradition als Mikrokosmos dargestellt wird, wo auf kleiner Fläche alle politischen und sozialen Entwicklungen der Neuzeit aufeinandertreffen. Geschichte manifestiert sich immer lokal, und der Roman macht das sehr deutlich, indem er die Geschicke der Familie Petersenn/Mertens immer wieder mit einem Haus in der Kleinen Gröpelgrube in der Altstadt zusammenführt:
Ein Fossil der alten Stadt, vom Efeu überwuchert, von Rosen umgarnt, eine steinerne Skulptur des Elends. Jessies Urgroßvater Michél Hinrichs war in diesem Haus geboren, Lucie war hier aufgewachsen, Freya, jetzt Jessie. Das Haus, eine von unzähligen Gesindebuden, welche die Vorderhausfamilien überall in der Stadt in ihre Hinterhöfe gestopft hatten, war gedrungen und robust wie eine alte Faust. Es war hunderte von Jahren alt, neue Farbe blätterte innerhalb eines Jahres wieder von den Fensterläden, es war roh und alt wie ein Fels. Es hatte die Pestwellen bezeugt, ihm war die Kloake bis zur Haustür gestiegen, bis sich der Himmel unter dem Gestank grün färbte. Läusegeplagte Familien hatten sich in seinem Bauch zusammengedrängt, es hatte Kinder in seinem Leib verhungern lassen, trunkene Familienväter hatten beim Kartenspielen kostbare Quadratmeter an die Nachbarn verloren. Das Haus kannte sich aus mit Armut, mit Geistern und mit dem Tod.
Wann immer die Geschichte und vielleicht sogar der Verfall einer Lübecker Familie erzählt wird, ist die Literaturgeschichte der Stadt natürlich nicht weit. Kutschke geht mit dieser Tatsache sehr offensiv um: Der unausweichliche Thomas Mann wird als Nebenfigur eingeführt und so gebannt, und auch Ida Boy-Ed erhält als Doyenne der Lübecker Literatur des frühen 20. Jahrhunderts mehrere Auftritte im Roman. Doch damit nicht genug: Um der Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition eine weitere ironische Brechung zu geben, führt Kutschke einen fiktiven Schriftsteller namens Hans Willnauer ein, der das Pech hat, mit seinem Schaffen nie aus dem Schatten von Thomas Mann hinauszukommen. Just in den Jahren nach dem Erscheinen von Buddenbrooks versucht er sich an einem fatal ähnlichen Werk:
Der Roman zeichnete den Aufstieg und den Fall einer Familie, nur umgekehrt, ständiger Fall, und irgendwann, aber erst auf Seite 773, schaffte es einer aus dem Schlamassel heraus. Für 221 Seiten ging es stetig aufwärts, dann kam was in die Quere, und der Fall begann erneut und zog sich über 354 Seiten, Schlussakkord in der Trave.
Auch wenn Stadt aus Rauch durchaus selbst einen solchen Schlussakkord hat und die Trave generell eine entscheidende Rolle im Buch spielt, wird man den Roman nicht mit dem ironisch geschilderten Epigonenwerk von Willnauer verwechseln wollen. Die große Zeit der Lübecker Literatur im frühen 20. Jahrhundert ist ohnehin nur eine von mehreren geschilderten Epochen im Roman, der danach schwungvoll voranschreitet und in den 1990er Jahren einen weiteren Schwerpunkt setzt. Die Handlung verlässt die ausgetretenen Gassen der Altstadt und erkundet die alternative Szene der Wallhalbinsel: Dort befindet sich der Wagenplatz „Fauna“, der für die Protagonistin Jessie zu einer zweiten Heimat wird. Mit viel Sympathie beschreibt Kutschke die konfliktreichen Leben der Bewohner*Innen, die nicht nur ihre Existenzform nach außen verteidigen und mit sich selbst ins Reine kommen müssen, sondern sich auch mit dem Erstarken des neonazistischen Terrors seit der deutschen Wiedervereinigung konfrontiert sehen. Anders als das bürgerliche Lübeck wollen sich die Aussteiger am Rand der Altstadt nicht mit dem nationalistischen Überschwang und den Brandanschlägen abfinden:
Ein Schwan breitete seine Schwingen aus und stieg aus dem Stadtgraben empor. Jessie sah dem Schwan nach, als stiege ein Drache aus den Fluten: „Bjarne, die Stadt ist wie ein altes krankes Tier mit Augen wie Schießscharten, ihr greiser Atem lähmt jeden Widerstand. Letztes Jahr die Synagoge, dieses Jahr die Hafenstraße. Stadt des Marzipans, dass ich nicht lache: Stadt des Nazipan. Wir sind die Hämorriden am Arsch dieser Stadt, wir müssen jucken, wir müssen schmerzen, Bjarne, ein einziges Mal will ich das Gefühl haben, dass auf uns zu zählen ist.“
Angesichts dieses Antagonismus zur saturierten Mehrheitsgesellschaft ist es nicht überraschend, dass die für Tourist*innen optimierte Schönheit der Altstadt für Jessie und ihre Freunde wenig Trost bereithält:
Die Niedlichkeit der Altstadthäuschen verursachte ihr Übelkeit. Mindestens vierzig Prozent der Stadt standen unter Denkmalschutz, als wäre es keine Stadt, sondern das Bild einer Stadt. Wenn Jessie durch die Straßen lief und von der Königs- in die Hüxstraße einbog, war es, als ob sie eine Seite in einem Bildband umblätterte. Sie hatte das Gefühl, einen fettigen Fingerabdruck auf einem Hochglanzabzug zu hinterlassen, wenn sie eine raue Steinfassade berührte, und wenn sie auf der Straße mit jemandem zusammenstieß, tat es weh, als ob man sich an Papier schnitt. Jessie müsste nur ein Streichholz an die Aegidienkirche halten, um die Stadt mit einem Atemzug zu vernichten.
Dass der Kontrast zwischen der touristischen Fassade und der Lebensrealität der Bewohner*innen hier so pointiert beschrieben wird, verbindet den Roman mit anderen in Lübeck spielenden Texten der Gegenwart, zuletzt etwa Hengameh YaghoobifarahsMinisterium der Träume (2021).
Während der Roman im Verlauf seiner Handlung einigen Wandel aufzuweisen hat, was Schauplatz und Protagonist*innen angeht, bleibt in anderer Hinsicht vieles beim Alten: Durch die Parallelführung von Szenen aus dem Kaiserreich, der Zeit des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik macht Kutschke sehr deutlich, dass zu jeder Zeit dieselben autoritären, rassistischen und antisemitischen Muster in jeweils nur den Zeitumständen angepasster Kostümierung anzutreffen sind, und aus der Betonung solcher Kontinuitäten gewinnt der Roman sein politisches Potenzial. Stadt aus Rauch wurde 2018 ins Niederländische übersetzt; die Übersetzung stand auf der Longlist zum Europäischen Literaturpreis 2019.
Kutschkes neuester Roman Gewittertiere (2021) erschließt ein für die Autorin eher neues Gebiet und begibt sich in eine kleinbürgerliche Vorstadt:
Die Reihenhaussiedlung, in der die Beckers wohnten, dehnte sich nah am Wald, durch den sich ein verschlammter Fluss schlängelte. Sie war der letzte Ausläufer der Stadt, dahinter begann die gezähmte, behäbige Flora des deutschen Nordens, geforstete Fichtenwälder, Weizen- und Maisfelder, ein paar Wiesen mit zerstreuten Findlingen, jeder einzelne mit einer Gravur versehen; was man nicht beackern, ernten, roden oder fällen konnte, musste man zumindest beschriften.
Der erste Teil der Handlung spielt erneut in den Neunzigerjahren, und wieder werden die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen, Lübeck und Mölln thematisiert – diesmal als Störungen der Reihenhausruhe, auf die Familie Becker nicht zu reagieren weiß. Der Verfall der familiären Strukturen spielt sich vor dem Hintergrund des erneuten Aufbrechens bundesdeutscher rassistischer Gewalt ab. Bei zahlreichen Anschlägen sterben Menschen, ohne dass strukturelle Systeme des deutschen Rassismus thematisiert werden; ohne dass Martin Becker die Gewalt, die Asylbewerbern in Deutschland angetan wird, in Relation zu den eigenen Sicherheitsbedürfnissen setzt. Das gefühlte Bedrohungsszenario einer deutschen Vorstadt kollidiert ohne Widerhall mit der tatsächlichen Gewalt, der Asylbewerber in Deutschland ausgesetzt sind. Die aus diesem Missverhältnis herrührende „Lösung“, die Becker einfällt, ist der Bau eines Bunkers im eigenen Garten – ein monströses, nutzloses und letztlich scheiterndes Unterfangen, das dem Roman eine düstere Spannung gibt. Zwar gelingt es den beiden Kindern der Familie, sich in Richtung Berlin zu entziehen, aber der Roman lässt keinen Zweifel daran, dass die Flucht aus der familiären Dynamik eine Lebensaufgabe ist:
Das war es, was ein Familiengewebe von jedem anderen unterschied: die Fähigkeit, vollkommen eigene Realitätsbezüge zu schaffen. Ein System zu errichten, das sich nicht im Vergleich mit der Außenwelt, sondern nur intern zu beweisen hatte.
Der Roman schafft es, eine derart offensichtliche Metapher für deutsche Befindlichkeiten wie den Bunker im Vorgarten mit einer einfühlsamen Betrachtung über Familienabhängigkeiten und Geschwisterschaft sowie mit einer berührenden lesbischen Coming-of-Age-Geschichte zu verbinden, ohne dass das Resultat überfrachtet wirkt.
Auch wenn sie hauptsächlich als Romanautorin bekannt ist, hat Svealena Kutschke auch für das Theater gearbeitet: Ihr Stück zu unseren füßen, das gold, aus dem boden verschwunden wurde 2019 im Deutschen Theater Berlin im Rahmen der Autorentheatertage uraufgeführt. 2011 und 2015 erhielt sie Arbeitsstipendien der Stiftung Schleswig-Holstein, und 2019 wurde ihr für ihr Werk der Förderpreis des Schiller-Gedächtnispreises verliehen.
22.10.2021 Jan Behrs
Veranstaltungen
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ORTE
WERKE
• Etwas Kleines gut versiegeln. Roman. Göttingen: Wallstein 2009.
• Gefährliche Arten. Roman. Köln: Eichborn 2013.
• Stadt aus Rauch. Roman. Köln: Eichborn 2017.
• Gewittertiere. Roman. Berlin: Claassen 2021.