Ida Boy-Ed

Boy-Ed, Ida Kornelia Ernestina; geboren als Ida Kornelia Ernestina Ed. Pseudonym: Ernst E.

Lübecker „Dichterfürstin“ und Förderin von Thomas Mann

Geboren in Bergedorf am 17. April 1852
Gestorben in Lübeck-Travemünde am 13. Mai 1928

Ida Boy-Ed hat fast ihr gesamtes Leben auf Lübecker Territorium verbracht, denn ihr Geburtsort Bergedorf war bis 1868 ein von Hamburg und Lübeck gemeinsam verwaltetes Gebiet. Ihr Vater, Christoph Marquard Ed, gründete dort 1842 die Eisenbahn-Zeitung, die er 1865 zusammen mit seinem Hausstand nach Lübeck verlegte. Der Name der erfolgreichen Zeitung, der später in Lübecker Nachrichten geändert wurde, drückt die fortschrittliche Einstellung ihres Gründers aus, der selbst Schriftsteller war und unter anderem Friedrich Hebbel und Amalie Schoppe zu seinem Freundeskreis zählte. Das Verlagsgebäude in der Großen Petersgrube 29, in dem die Eds auch wohnten, können wir uns deswegen als behüteten, intellektuell anregenden Ort vorstellen – Ida Boy-Ed hat sich selbst wiederholt so geäußert. Aus diesen vergleichsweise idyllischen Verhältnissen wird sie 1870 abrupt gerissen, als sie im Alter von nur 17 Jahren den Lübecker Kaufmann Karl Johann Boy heiratet und in rascher Folge vier Kinder bekommt – die Ehe ist unglücklich, und die junge Ehefrau leidet unter der Familie ihres Mannes, die ihren schriftstellerischen Ambitionen kein Verständnis entgegenbringt. Im Rückblick wird sie die feindselige Stimmung in der Familie für ihr unprätentiöses Arbeitsethos verantwortlich machen:

Ich lebte, seit meine Heirat mich aus der von geistigen und politischen Interessen erfüllten Atmosphäre meines Vaterhauses entführte, fast immer unter unliterarischen Menschen. […] Das hat mich vor der Überschätzung literarischen Schaffens geschützt. Wer zwischen lauter Kunstschöpferischem lebt, denkt oder fühlt, als seien ihre Taten der Angelpunkt der Kultur überhaupt.

Trotz dieses Versuchs, im Rückblick auch etwas Positives zu finden, muss die Situation für die Jungverheiratete ausgesprochen bedrückend gewesen sein: sie flieht 1878 mit ihrem ältesten Sohn nach Berlin, um sich unter schwierigsten materiellen Bedingungen als Journalistin durchzuschlagen. Schon knapp zwei Jahre später kehrt sie jedoch nach Lübeck zurück, weil ihr Mann nicht in eine Scheidung einwilligen will und mit ihr eine Art Kompromiss aushandelt, der ihr zukünftig das Schreiben ermöglicht. Fortan schrieb sie mit enormem Arbeitseifer und sollte bis zum Ende ihres Lebens über 70 Roman und Erzählungsbände veröffentlichen: „Müßige Stunden hat es in meinem Leben nicht gegeben.“#1 Allmählich wurde ihr Einsatz auch finanziell belohnt, was es der Familie ihres Mannes erleichtert haben mag, die unübliche Tätigkeit der Schwiegertochter zu akzeptieren. In ihren letzten Lebensjahrzehnten war Ida Boy-Ed zu einer geachteten und anerkannten Schriftstellerin avanciert. Die Stadt Lübeck verlieh ihr zu ihrem 60. Geburtstag dauerhaftes Wohnrecht im Zöllnerhaus am Burgtor (Große Burgstr. 5), wo sie bis zu ihrem Tod lebte – aus der jungen Frau, die mit ihrem Schreiben und ihrer Trennung vom Ehemann das konservative Bürgertum schockierte, war eine angesehene Repräsentantin der Hansestadt Lübeck geworden. Über ihren Tod schreibt Peter de Mendelssohn:

Sie starb, sechsundsiebzigjährig, am 13. Mai 1928 in einem Sanatorium im nahen Ostseebad Travemünde. Lübeck flaggte halbmast. Jenen, die die Trauerfeier in der Marienkirche erlebten, war zumute, als trage man eine regierende Fürstin zu Grabe.

Peter de Mendelssohn: Vorbemerkungen des Herausgebers. In: Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff und Ida Boy-Ed. Frankfurt: Fischer 1975, S. xxiii.

Dass hier ein als Thomas-Mann-Forscher bekannter Autor das Begräbnis beschreibt, zeigt ein Grundproblem unseres heutigen Bilds von Boy-Ed: Sie ist weniger durch ihre Werke bekannt als durch ihre Förderung junger Lübecker Autoren, unter ihnen eben auch Thomas Mann. Dieser schätzte die ältere Kollegin zeitlebens sehr, nachdem er sie bereits als Gymnasiast kennengelernt hatte:

Sie war Jahre und Jahrzehnte lang seine zuverlässige Stütze, sein fester Halt in der alten Heimatstadt; ihr verdankte er es vor allem, daß Lübeck schließlich begriff, warum er ihm zur Ehre und nicht zur Schande gereichter, ihn anerkannte und wieder unter die Seinen aufnahm […]. Sie wußte, was es hieß, sich in Lübeck mit einer „unbürgerlichen“ Leistung durchzusetzen; sie hatte es selbst erlebt und durchgekämpft.

Peter de Mendelssohn: Vorbemerkungen des Herausgebers. In: Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff und Ida Boy-Ed. Frankfurt: Fischer 1975, S. xvi.

Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden beschränken sich aber nicht auf diese (reale oder vermeintliche) Unbürgerlichkeit: Mit Ein königlicher Kaufmann hat Ida Boy-Ed 1910 einen Roman vorgelegt, der als Gegenwurf oder auch als Ergänzung zu den neun Jahre früher erschienenen Buddenbrooks gelten kann. Anders als in Mann in seinem Bestseller schildert Boy-Ed auch das industrielle Lübeck, das seit der deutschen Reichsgründung im Begriff war, den altehrwürdigen Handelsplatz zu ersetzen. Dementsprechend widmet sich der Roman neben den guten Stuben der Honoratioren bevorzugt auch den Warenlagern am Rand der Stadt:

Drüben reihten sich verschiedene Lagerplätze hin, von Gittern oder Pauken umsäumt, mit weithin lesbaren Firmenschildern. […] Aus fernen Hintergrund hatten sie das Grün, die hellen Häuser und das feine Kirchtürmchen der Vorstadt; es hing ein bläulicher Dunstschleier davor und täuschte mehr Weite auf das Bild, als es wirklich hatte […]. Das schwere Grau des Himmels ließ den Fluß fast schwarz erscheinen; wasserarm war er, denn der West peitschte den Strom hinaus. Vom Regen begossen und verwaschen, wirkten die Schiffe fahl und unfroh.

Ida Boy-Ed: Ein königlicher Kaufmann. Hanseatischer Roman. Stuttgart, Berlin: Cotta 1910, S. 49.

Neben einem großen Lesepublikum – der Roman erlebte in schneller Folge etliche Auflagen – scheint das auch Thomas Mann überzeugt zu haben: Er lobt die „Beherrschung alles Kaufmännischen“ und fügt kokett hinzu, er habe „besonderen Grund, hier zu bewundern, denn eine der schwachen Seiten meines eigenen Kaufmannromans ist, daß das Kaufmännische darin auf eine fast ärmliche Weise zu kurz kommt.“#2 Weiterhin erkennt der längst in Bayern lebende Großschriftsteller an, dass es Boy-Ed gelungen sei, den Lübeck-Roman zu erneuern:

Ich atmete Heimatluft, während ich las, aber die Luft einer Heimat, die ich nicht mehr kenne, einer neuen, verjüngten Heimat mit frischerer Luft, erweitertem Horizont, einer Heimat, auf die man stolz sein darf.

Brief von Thomas Mann an Ida Boy-Ed vom 28.6.1910. In: Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff und Ida Boy-Ed. Frankfurt: Fischer 1975, S. 169.

Seine im gleichen Brief geäußerte Prognose, der königliche Kaufmann werde Boy-Ed dauerhaft Ruhm und Popularität einbringen, hat sich freilich nur kurzzeitig erfüllt. Während ihre späten Werke immerhin noch in Bibliotheken vorhanden sind, ist die Überlieferungssituation für ihre schriftstellerischen Anfänge ausgesprochen schlecht – ein Umstand, den man wohl nur auf die systemische Geringschätzung schreibender Frauen zurückführen kann, unter der Boy-Ed zeitlebens zu leiden hatte und die sich so indirekt bis heute fortsetzt. Wenn wir ihre frühen Texte lesen, stoßen wir auf eine überraschend moderne Erzählerin, die trotz der Tatsache, dass sie in recht konservativen literarischen Zeitschriften veröffentlichen musste, nicht mit Kritik an der „Kachelofenatmosphäre“ der „weltverlorne[n] alte[n] Hansestadt“ spart.#3 Hier zeigt sich eine gewisse Nähe zur radikalen Literatur des Naturalismus, die Boy-Ed in Berlin kennengelernt hatte. In der naturalistischen Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlichte sie einen ihrer kompromisslosesten Texte, die düstere, zynische Novelle Zuletzt gelacht, die in den zu Bergedorf gehörenden Vierlanden spielt. #4 Mit dem Herausgeber der Zeitschrift, Michael Georg Conrad, hat sie in den 1880er Jahren eine Affäre gehabt, die einige Jahre bestand, aber vor der Außenwelt komplett geheimgehalten werden musste.#5

In ihren späteren, erfolgreicheren Werken verliert sich der Radikalismus zugunsten einer gesellschaftlich konservativen und bisweilen auch nationalistischen Haltung. Insbesondere die Stellung der Frau im Literaturbetrieb und im gesellschaftlichen Leben insgesamt bleibt Boy-Ed aber ein Anliegen. In ihrer Trilogie von psychologischen Biografien schreibender Frauen, die sie zwischen 1912 und 1921 vorlegt,#6 beklagt sie das Fehlen weiblicher Stimmen in der (Literatur‑)Geschichtsschreibung: „Wir Frauen haben uns zu lange von der seelenkundigen Erörterung wichtiger Fälle, darin unsterbliche Geschlechtsgenossinnen in unsicherer Belichtung standen, zurückgehalten.“#7 Angesichts dieses Mangels bringt sie durchaus selbstbewusst den Gedanken zum Ausdruck, dass weibliche Perspektiven essentiell für das historische Verständnis sind: „Ich denke mir, wenn ein Mann versuchen würde, sich dieser Gestalt zu nähern, müßte ihm rasch die Erkenntnis kommen: nur eine Frau könne diese Frau verstehen.“#8

Dass Frauen bis heute eben keine gleichberechtigten Teilnehmerinnen der Auseinandersetzung über Literaturgeschichte sind, belegt die Rezeption von Ida Boy-Ed selbst, die bereits kurz nach ihrem Tod auf die Förderung Thomas Manns reduziert wird, wenn sie nicht ganz abbricht. „Erfolgreiche Erzählerinnen“, so der Titel des den Frauen gewidmeten Sammelkapitels in der schleswig-holsteinischen Literaturgeschichte von Horst Joachim Frank,#9 stehen oft unter Trivialitätsverdacht, und biografische Standardwerke wie die Neue Deutsche Biographie sind erstaunlich kurz angebunden, wenn es um die vermeintlich „typisch kultivierte Frauenliteratur“ von Boy-Ed geht#10. Immerhin in Lübeck wird ihrer noch gedacht: Im Norden der Altstadt, unweit ihrer ehemaligen Wohnung im Zöllnerhaus, liegt heute der Ida-Boy-Ed-Garten.

15.2.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Ida Boy-Ed: Wenn man zurückdenkt. In: Ida Boy-Ed. Eine Auswahl von Peter de Mendelssohn. Lübeck: Weiland 1975, S. 35. Auch online unter: www.zeno.org/Literatur/M/Boy-Ed,+Ida/Autobiographisches/Wenn+man+zur%C3%BCckdenkt (Aufruf 14.2.21)

2 Brief von Thomas Mann an Ida Boy-Ed vom 28.6.1910. In: Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff und Ida Boy-Ed. Frankfurt: Fischer 1975, S. 169f.

3 Ida Boy-Ed: Seines Kindes Stimme. Novelle. In: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 1881.2, S. 1410/1417.

4 Ida Boy-Ed: Zuletzt gelacht. In: im 3. Jahrgang der Zeitschrift (1887).

5 Peter de Mendelssohn: Vorwort. In: Ida Boy-Ed. Eine Auswahl. Lübeck: Weiland 1975, S. 14.

6 Ida Boy-Ed: Charlotte von Kalb. Eine psychologische Studie. Jena: Diederichs 1912; Das Martyrium der Charlotte von Stein. Versuch ihrer Rechtfertigung. Stuttgart, Berlin: Cotta 1916; Germaine von Staël. Ein Buch anläßlich ihrer. Stuttgart, Berlin: Cotta 1922. Als unselbständige Veröffentlichung erschien außerdem ein biografischer Aufsatz über die Lübecker Schriftstellerin Dorothea (Rodde-)Schlözer# (in: Die Gartenlaube, H. 10/11, 1915).

7 Ida Boy-Ed: Das Martyrium der Charlotte von Stein. Versuch ihrer Rechtfertigung. Stuttgart, Berlin: Cotta 1916, S. 13.

8 Ida Boy-Ed: Charlotte von Kalb. Eine psychologische Studie. Jena: Diederichs 1912, S. 1.

9 Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Band 3.2: 19. Jahrhundert. In Preußen und im neuen Reich. Neumünster: Wachholtz 2004.

10 Ernst Alker: Artikel „Boy-Ed, Ida“. In: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 495 [Online-Version]; URL: www.deutsche-biographie.de/pnd118662473.html