Günter Grass

Grass, Günter Wilhelm; (Auch: Günter Graß). Pseudonym: Artur Knoff

Schriftsteller, Grafiker, Nobelpreisträger

Geboren in Danzig-Langfuhr am 16. Oktober 1927
Gestorben in Lübeck am 13. April 2015

Günter Grass hatte einen engen Bezug zu Schleswig-Holstein. Dem Land zwischen den Meeren und seinen Besonderheiten war er sehr verbunden. Dies spiegelt sich auch im Werk des Malers, Grafikers, Bildhauers und Schriftstellers wider, u.a. in diesem kurzen Gedicht:

Die Heringe der Ostsee

sind kleiner als die Heringe der Nordsee;

auch verlaufen ihre Geschichten

von Pfützenrand zu Pfützenrand

ganz anders erzählt.

Wewelsfleth

1972 erwarb Günter Grass in Wewelsfleth ein altes Fachwerkhaus. Damit bewahrte er die ehemalige Kirchenvogtei vor dem Abriss. In dem großen Arbeitszimmer mit Blick auf die Mauern der Trinitätskirche schrieb er unter anderem den siebenhundert Seiten starken Roman Der Butt (1977) Dabei ließ er sich von den umgebenden Marschlandschaften inspirieren, „die plan genug waren, um in und über ihnen das Märchen vom Fischer und seiner Frau neu zu erzählen und die Köchin in mir – es sollten neun und mehr Köchinnen werden – zu entwerfen“. „Und bei Gelegenheit – als hätte ich immer wieder Distanz, neuen Anlauf nehmen müssen – wurden Zeichnungen und Gedichte einander zugeordnet: kurze private und solche, aus denen Wewelsfleth, das Dorf spricht.“ Anfang der 1980er Jahre stellte der gelernte Bildhauer das Schreiben für vier Jahre ein und begann wieder mit Töpferton zu arbeiten. In den Brennöfen nahe Wewelsfleth entstanden nach vielen Jahren Aale-,  Schnecken- und Butt-Plastiken.

1984 zog Günter Grass für kurze Zeit nach Hamburg. Das Haus in Wewelsfleth schenkte er ein Jahr später dem Land Berlin. Es wird als „Alfred-Döblin-Haus“ von Schriftstellern für Arbeitsaufenthalte genutzt. In Hamburg fehlte ihm bald die Nähe zur Natur. So beschlossen der Autor und seine Frau Ute Grass „in lachhafter Sentimentalität, in Richtung Osten zu ziehen“. Möglichst nah an der Ostsee suchten sie fast ein Jahr lang nach einem geeigneten Haus.

Behlendorf

Zwischen dem Elbe-Lübeck-Kanal und dem Behlendorfer Forst fand er 1985 schließlich ein „Wurzelschlaghaus“ für „Pendler“ wie ihn, die sich Sesshaftigkeit wünschen und trotzdem unterwegs bleiben. Es diente ihm als Arbeitsplatz und als zentral gelegener Ausgangspunkt für viele Reisen. Mitten in der Endmoränenlandschaft des Herzogtums Lauenburg, die ihn an seine Heimat, Kaschubien, erinnerte, fühlte sich der Dichter wohl. „Die Landschaft ist nicht zu platt“ und der ursprüngliche Wald direkt hinter dem Grundstück war einladend. An diesem Ort verbrachte Günter Grass die letzten dreißig Jahre seines bewegten Lebens.

„Die Ruhe in Behlendorf erlaubt [ihm], verstreute Sorgen zu sammeln“ und Kraft zu tanken. Wie man sich den Privatmann Grass in seiner Idylle vorstellen kann, skizzierte Christa Wolf in einem Text zu seinem 70. Geburtstag. Sie erinnerte sich, „wie Du mit Deinen und Utes Gästen im Garten unter den Bäumen sitzt, Wein trinkend, rauchend, in gelöster Stimmung Lebensgeschichten erzählend“.

In diesem Garten ließ er sich Ende der 1990er Jahre zu mannigfachen Aquarellen inspirieren. Mit raschen Pinselstrichen entstanden hier Werke, die als Fundsachen für Nichtleser (1997) publiziert wurden: die Obstwiese mit Äpfeln, Birnen und der große Nussbaum, der Gartenschlauch, den er an einem heißen Augusttag eine Stunde lang zusammenlegte, und Utes Ziergarten, die „umzäunte Seelenanlage“.

Vom nahegelegenen Schorberg aus blickt man auf ein malerisches Panorama, das aus der Behlendorfer Schleuse, Hügeln und der blauen Ader der Region, dem Elbe-Lübeck-Kanal, besteht. Diese Landschaft ist unter dem Namen „Rheder-Blick“ nach dem Architekten des Kanals bekannt und ein beliebter Aussichtspunkt. Da wundert es nicht, dass sich auch der Künstler Grass von dem Anblick zu farbenfrohen Aquarellen inspirieren ließ.

Später Wunsch

Pappeln säumen den Elbe-Trave-Kanal.

Von Stufe zu Stufe wenig Verkehr.

Wäre ich Schleusenwärter, schriebe ich

gegen die Zeit an, ließe sie nur

verzögert passieren.

Im angrenzenden Behlendorfer Wald ging Günter Grass gerne in die Pilze – wie schon als Kind im Umland von Danzig. Für seine „kaschubische Verwandtschaft mütterlicherseits [war] das Pilzesuchen und das Betrachten von Pflanzen im Wald sehr wichtig“. In seiner Anthologie Mein Jahrhundert (1999) spielt diese Beschäftigung die Hauptrolle in einer besonderen Geschichte: Zur Bundestagswahl 1998 luden Ute und Günter Grass Gäste nach Behlendorf ein, mit denen sie gemeinsam bei Linsensuppe das Wahlergebnis erwarteten. Bevor Peter Rühmkorf und die weiteren Gäste eintrafen, „verdrückte“ sich der stets politisch gebliebene Künstler aus der angespannten Atmosphäre zum Pilzesammeln in den umliegenden Wald. Ein „restlicher Aberglaube“ nährte seine Hoffnung, die Anzahl der gefundenen Pilze „ins Verhältnis zum gleichfalls erhofften Wahlergebnis zu bringen“.

Mölln

Über künstlerische Inspiration hinaus nahm der Bürger Grass Anteil an den politischen Ereignissen der Region. Wenige Tage nachdem der Autor in seiner „Rede vom Verlust“ (November 1992) in München die Eskalation rechtsextremer Gewalt in der erst kurz zuvor geeinten Republik und den Unwillen der Politik, „dem wiederholten Verbrechen Einhalt zu gebieten“ anprangerte, setzten lokale Neonazis in der nahegelegen Stadt Mölln zwei Wohnhäuser mit Brandsätzen in Flammen, in denen türkischstämmige Bürger:innen wohnten.

Der Sturm auf ein Asylbewerberheim in Rostock, die Brandstiftung in Mölln und die bevorstehende Grundgesetzänderung des Asylrechtartikels: Im Herbst des Jahres 1992 sah sich der Künstler Grass mit einer deutschen Wirklichkeit konfrontiert, die ihn sprachlos machte. Er engagierte sich vor Ort. Den frisch gegründeten Möllner Verein „Miteinander leben e.V.“ unterstützte er seit dessen Beginn und schloss sich diesem gemeinsam mit seiner Frau Ute als Ehrenmitglied an.

Um die Kontinuität rechter Gewalt in diesem Land als solche zu benennen und anzuklagen, inszenierte er sich anschließend in der Tradition des Barockdichters Andreas Gryphius als Anwalt öffentlicher Moral. Grass hatte bis dahin noch keine Sonette geschrieben, fühlte jedoch die Notwendigkeit dieser strengen Form. Mit dreizehn Sonetten, die von ebenso vielen Sepiazeichnungen begleitet werden, zeichnete Grass eine „Allegorie des Verfalls“. Noch vor der Veröffentlichung der Sonett-Sammlung unter dem Titel Novemberland (1993) trug er die Texte in Mölln vor und setzte damit ein starkes Zeichen gegen das Vergessen.

Lübeck

Zu Lübeck hatte Günter Grass eine besonders enge Verbindung. Nur eine kurze Autofahrt von Behlendorf entfernt, fühlte er sich in Lübeck an seine verlorene Heimatstadt Danzig erinnert. Eindrücklich waren für ihn die Fassaden der Backsteingotik, die Kirchen, die verwinkelten Gassen und die Nähe zu seiner „baltischen Pfütze“, der Ostsee. Dass die von ihm geschätzten Persönlichkeiten Thomas Mann und Willy Brandt gebürtige Lübecker waren, spielte ebenfalls eine Rolle.

Im Dachgeschoss eines historischen Gebäudes in der Glockengießerstraße fand Günter Grass einen geeigneten Ort für sein Sekretariat, das er 1995 aus Berlin in die Lübecker Altstadt verlegte. Die Atmosphäre des alten Dielenhauses war noch stark von einer Steinwerkstatt aus vergangenen Zeiten geprägt, deren Spuren man auch heute im Eingangsbereich findet. In diesem Haus, gegenüber der ehemaligen Schule von Thomas Mann, ging der einstige „Steinmetzpraktikant“ ein und aus.

Nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an Günter Grass im Jahr 1999 entwickelte die Stadt Lübeck Pläne für ein Museum. Das Günter Grass-Haus wurde im Untergeschoss desselben Hauses 2002 als Forum für Literatur und Bildende Kunst eröffnet. In der Dauerausstellung und in den idyllischen Gärten präsentiert es das facettenreiche Werk des Schriftstellers, Grafikers, Bildhauers und politischen Intellektuellen. Günter Grass wurde damals nach seiner Zustimmung gefragt. Er erteilte diese unter der Bedingung, dass das Haus auch andere Künstler:innen präsentieren sollte. Aus diesem Grund zeigt das Günter Grass-Haus bis heute in wechselnden Sonderausstellungen regelmäßig Talente, die ähnlich wie Grass in verschiedenen künstlerischen Disziplinen arbeiten.

Bis zu seinem Tod hielt Günter Grass im Museum häufig Lesungen, nahm an Podiumsdiskussionen teil oder beantwortete bei pädagogischen Veranstaltungen Fragen von Lehrer:innen und Schüler:innen. Die letzte Vernissage mit ihm als Ehrengast war im Januar 2015 der Auftakt zur Ausstellung „War eigentlich ein schönes Schiff …“ zur Novelle Im Krebsgang. Im darauffolgenden April verstirbt der Autor in einem Lübecker Krankenhaus – in der Stadt, die für ihn zu einer Art Ersatzheimat für sein verlorenes Danzig geworden ist.

Der künstlerische Antrieb des Schriftstellers blieb ein Leben lang der „unwiederbringliche Verlust der Heimat“. Jeder seiner zu Papier gebrachten Sätze hatte seine Wurzeln „zwischen der Weichselniederung und den Hügeln Kaschubiens, in der Stadt Danzig und deren Vorort Langfuhr, an den Stränden der Ostsee“. Immer wieder kam er dabei auf die Ostsee als Leitmotiv seines Lebens zurück. An den Stränden der dänischen Insel Møn, in der Lübecker Bucht und sogar in Portugal ließ er sich von ihr inspirieren.

Lebenslang

Auch an atlantischer Küste

laufe ich baltische Strände ab.

    Bis zur Mole,

        dann der Fußspur entgegen.

Ob Bernstein, ob Muscheln,

    nur Vorwand sind meine Fundsachen,

        denn was ich suche,

            bleibt unbestimmt.

Den Platz für seine letzte Ruhestätte suchte der Künstler selbst aus. Unter einem großen Baum auf dem Behlendorfer Friedhof ruht Günter Grass. Die Stätte ist durch einen Findling markiert. Auf seinen Wunsch sind dort nur dessen Name und Lebensdaten eingraviert.

In einem Aquadicht in den Fundsachen für Nichtleser hielt er 1997 fest, man solle ihn mit einem „Sack Nüsse“ begraben:

Wegzehrung

Mit einem Sack Nüsse

will ich begraben sein

und mit neuesten Zähnen.

   Wenn es dann kracht,

      wo ich liege,

         kann vermutet werden:

            Er ist das,

               immer noch er.

1.12.2021 Julia Wittmer