Larissa Boehning

Boehning, Larissa

Prosaistin mit Blick für urbane und suburbane Szenen

Geboren in Wiesbaden am 25. August 1971

Die Prosaautorin Larissa Boehning wuchs in Halstenbek im Hamburger Umland auf. Sie studierte in Lüneburg und Berlin, wo sie bis heute lebt, und arbeitete als Grafikdesignerin und Dozentin für kreatives Schreiben und Medienästhetik. 2003 trat sie erstmals als Autorin in Erscheinung: Ihr Erzählungsband Schwalbensommer beschrieb lakonisch und mit Gespür für szenische Zuspitzung die Geschicke von etwas unverankert im Leben treibenden MittdreißigerInnen. Boehnings Schauplätze sind hier wie auch in ihren folgenden Werken überwiegend urban, aber Schleswig-Holstein taucht in den Erzählungen als Kontrastfolie auf. Es wird nicht als ländliche Idylle gedacht, sondern erscheint als zersiedelte und wenig einladende Landschaft, die die Verlorenheit der ProtagonistInnen widerspiegelt:

Sie fuhren durch die flache, tiefmoorige Landschaft des Nordens, Felder, Weideflächen, von Gräben durchzogen, an deren Rändern sich windschiefe Büsche über Zäune lehnten. Am Horizont wanderten für lange Zeit die Kuppel und der Kühlturm des Kernkraftwerks Brokdorf mit; ringförmig breiteten sich von dort die Spannungsmasten aus, übergroße, sechsarmige Stahlfiguren, an deren Verstrebungen die Leitungen wie an Fingerspitzen hingen.

Larissa Boehning: Von oben. In: Schwalbensommer. Erzählungen. Frankfurt: Eichborn Berlin 2003, S. 48.

Auch touristische Highlights des Nordens bleiben von diesem nüchternen Blick nicht verschont, wenn etwa die Insel Amrum in der Erzählung Spielen oder um die Insel gehen als hauptsächlich von RentnerInnen bevölkertes „Spießerparadies“ #1 beschrieben wird und dementsprechend für die Hauptfiguren nur wenig Trost bereithält.

Der 2007 erschienene Roman Lichte Stoffe bezeugt erneut Boehnings Talent für konzise, impressionistische Beschreibungen, fügt diese aber zu einer ambitionierten Familiengeschichte zusammen, die über mehrere Generationen hinweg das Schicksal eines Degas-Gemäldes und auf diese Weise auch ein großes Stück deutscher Geschichte erzählt. Die Handlung des Romans verteilt sich auf viele Schauplätze, darunter auch das südliche Schleswig-Holstein in der Metropolregion Hamburg, das erneut völlig unverkitscht als suburbaner, wenig aufregender, aber genau deswegen für die Protagonistin heimatlicher Raum beschrieben wird:

An ihrem Fenster zog die Ausfahrt vorbei, die geduckten Reihen- und Mehrfamilienhäuser, roter Backstein, betonierte Auffahrten, der Aldi, der Bäcker, das Internetcafé, das Bistro, der Gyros-Grieche, der Döner-Laden, das Blumengeschäft, die Boutique für Übergrößen, der Hunde-Frisör, Kalles Kramladen, Sanitätsbedarf, die bis nach außen vergilbte Kegelkneipe. Weiß umzirkelte Parkplätze vor den Schuhkartongebäuden, einige Mehrfamilienhäuser, dann eine mit Stacheldraht umzäunte Wiese, wieder eine Neubausiedlung, rot verklinkerte Doppelhaushälften, vor den Häusern Holzdächer, unter denen die Autos wohnen durften. Niedrige Buchenhecken, an denen noch das ockerfarbene Laub vom letzten Herbst hing. Frisch bepflanzte Vorgärten, weiße Friesenzäune, dunkle Jägerzäune, grüne Maschendrahtzäune […]. Bürgersteige, die aussahen, als seien sie noch nie benutzt worden.

Larissa Boehning: Lichte Stoffe. Roman. Frankfurt am Main: Eichborn Berlin 2007, S. 312f.

Das Feuilleton zeigte sich begeistert von Boehnings Debütroman – Julia Bähr fühlte sich in der FAZ an „ein feinziseliertes Schmuckstück“ erinnert, „dem man nicht die Arbeit des Goldschmieds ansieht, sondern nur die schimmernde Anmut.“ #2 Der Roman erreichte die Longlist für den Deutschen Buchpreis, und der Autorin wurde der Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg verliehen. 2008 erhielt sie außerdem den Kulturpreis des Kreises Pinneberg (Förderpreis).

Auf Lichte Stoffe ließ die Autorin 2011 den zweiten Roman Das Glück der Zikaden folgen. Wieder handelt es sich um einen Familienroman, und diesmal spannt sich die Handlung über drei Generationen und drei politische Systeme – die Sowjetunion, die DDR und die BRD.

2014 folgte schließlich Boehnings derzeit aktuellster Roman Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr, nachdem die Autorin bereits beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 aus einer Vorläuferversion des Textes vorgelesen hatte. Der abgründige Roman spielt in Hamburg und schildert eine Dreiecksgeschichte, in deren Verlauf die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge immer mehr verschwimmen. Hier kommen auch Schleswig-Holstein und der bereits erwähnte Kontrast zwischen touristischer Idylle und eher unspektakulärer kleinstädtischer Realität wieder ins Spiel: Ein Protagonist, der in Wirklichkeit aus einem eher kleinbürgerlichen Umfeld in Rendsburg stammt, gibt sich online als „hemdsärmeliger, ansehnlicher Junge“ aus, der „in Norddeutschland auf einem Bauernhof aufgewachsen“ sei und deswegen als „[t]atkräftig, zupackend, ehrlich“  gelten will. #3 Dass solchen klischierten Herkunftsgeschichten mit Skepsis begegnet werden sollte und dass das wirkliche Leben meist etwas komplizierter ist, als es auf den ersten Blick erscheint, ist eine der Hauptaussagen des vielschichtigen Romans.

8.10.2021 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Larissa Boehning: Spielen oder um die Insel gehen. In: Schwalbensommer. Erzählungen. Frankfurt: Eichborn Berlin 2003, S. 132.

2 Julia Bähr: Liebe am seidenen Faden [Rezension Larissa Boehning: Lichte Stoffe]. FAZ vom 2.10.2007. Zitiert nach https://www.buecher.de/shop/buecher/lichte-stoffe/boehning-larissa/products_products/detail/prod_id/22793831/.

3 Larissa Boehning: Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr. Roman. Berlin: Galiani Berlin 2014, S. 84.