Hansjörg Martin

Martin, Hansjörg

Sozial engagierter Erneuerer des Kriminalromans

Geboren in Leipzig am 1. November 1920
Gestorben auf Mallorca am 11. März 1999

In einem Artikel von 1985 erinnert sich Hansjörg Martin an eine Zugfahrt, bei der er einen Mitreisenden dabei beobachtet, wie dieser seine Krimilektüre schamhaft verbirgt. Darauf angesprochen, erklärt der heimliche Krimileser, ein Geschäftsmann, er könne es sich „aus Imagegründen“ nicht leisten, mit einem solchen Buch in der Hand gesehen zu werden: „‚Es würde meine väterliche Autorität schmälern‘, meinte er allen Ernstes, ‚und es würde meinem Ansehen in der Branche schaden, wenn sich das herumspräche, was ich da lese …‘“ #1 Der hier beschriebene verklemmte Umgang mit dem Krimi ist sicherlich auch dafür verantwortlich, dass man Martin selbst, der in seiner Zeit zu den Großmeistern des Genres gehörte, heute nicht seiner Bedeutung entsprechend würdigt: Bis in unsere Zeit werden Kriminalromane nicht als „ernsthafte Literatur“ wahrgenommen, sondern als leichte Kost für den Augenblick, und selbst Pioniere wie Martin werden – trotz des derzeitigen Booms von Schleswig-Holstein- und anderen Regionalkrimis – kaum mehr aufgelegt oder gelesen.

Das war von den 1960er Jahren bis in die Neunziger anders: Seit Martins erstem Kriminalroman, Gefährliche Neugier von 1965, konnten seine vielen Veröffentlichungen auf das Interesse einer großen Leser*Innenschaft rechnen, und etliche von ihnen wurden verfilmt. Das Erstlingswerk enthält bereits einige Zutaten, die auch später bei diesem Autor immer wieder wichtig sind: Seine Protagonist*Innen sind meist nicht von der Polizei, sondern oft freiwillige oder unfreiwillige Außenseiter, die der Gesellschaft, in der sie ermitteln, skeptisch gegenüberstehen. Und die durchaus zahlreichen Morde, die Martin seinem Publikum zumutet, geschehen oft nicht in der Großstadt, sondern in kleineren Orten mit deutlich norddeutschem Gepräge. Diese werden mit soziologischem Gespür, aber nicht bierernst beschrieben – Martins Talent für mild-ironische Gesellschaftsanalysen zeigt sich bereits in Gefährliche Neugier, wenn es beispielsweise um das kleinstädtische Kulturleben und die Nebentätigkeit einer Schauspielerin geht:

Sie hatte in Niedermoordorf […] vor dem Landfrauenbund – bei dem scheinbar plötzlich ein Bildungsbazillus grassierte – anläßlich eines Kaffee-und-Kuchen-Nachmittags die Novelle ‚Immensee‘ und Gedichte von Theodor Storm vorlesen sollen. Die Novellenvorlesung war noch einigermaßen glatt gegangen – einige der Damen hatten sogar geweint –, aber dann wurde der Kaffee serviert, die Buttercremetorten wurden angeschnitten und darüber gingen die feinsinnigen Verse Storms in die Binsen. Wo es traurig war, kicherten die Landfrauen, wo’s heiter war, hörten sie nicht hin, die Wellen ihrer Konversation schlugen über Giselas Vorlesebemühungen zusammen. Sie brach ab – und nicht mal das merkte eine der Zuhörerinnen …

Hansjörg Martin: Gefährliche Neugier. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965, S. 22.

Obwohl er in einem Literaturbetrieb, der bis heute streng nach solchen Kategorien sortiert, ohne Zweifel in das Feld der „Unterhaltungsliteratur“ gehört und diese Zuschreibung auch kaum zurückgewiesen hätte, bedeutet das nicht, dass Martin mit seinen Romanen keine weitergehenden Ambitionen verfolgt hätte. Er will seine Leser*Innen nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken bringen, und bekennt selbstbewusst,

daß mir fünfzigtausend Krimikäufer und -leser, die unversehens und im Rahmen einer leicht lesbaren, spannenden und amüsanten Geschichte mit Problemen konfrontiert werden, sie mühelos schlucken und nachzudenken beginnen, lieber sind als eintausendneunhundertfünfundzwanzig kluge Köpfe, sechshundertzweiundvierzig Besserwisser und andere Leute aus der Kategorie der sogenannten Bildungsbürgerschaft.

Hansjörg Martin: „Medizin in Bonbonbeuteln“ oder Die Situation des deutschen Krimis und seiner Autoren. In: Karl Ermert, Wolfgang Gast (Hrsg.): Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie 1985, S. 81-87, hier S. 85.

Diese anti-elitäre Wirkungsabsicht beschränkt sich bei Martin nicht auf seine Krimis: Neben dutzenden Kriminalromanen hat er vor allem Kinder- und Jugendbücher geschrieben, und auch sie zeichnen sich durch eine unverblümte und direkte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen aus, ohne jemals belehrend oder gar oberlehrerhaft zu wirken. Und auch bei seinen Erwachsenenbüchern, die keine Krimis sind, findet sich ein solcher Zugang: Der vom Geist der Umweltbewegung getragene Roman Gegen den Wind (1984) thematisiert – darin Büchern wie Dörte Hansens Mittagsstunde nicht unähnlich – den Strukturwandel in einem norddeutschen Dorf, der den Bewohner*Innen des fiktiven Örtchens Heetel unverhofft eine Chemiefabrik in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft beschert.

Eher unbekannt geblieben ist Martins Lyrik. 1990 erschien in der "Edition Euterpe" ein Band, der - neben Reiseberichten von Orten wie Glückstadt und den Halligen - auch etliche Gedichte des Autors präsentiert, in denen er sich als humorvoll-verspielt und gelegentlich als dezidiert anti-bürgerlich erweist. Hier kommt in Gestalt des Wangelser Ortsteils Kükelühn (zwischen Lensahn, Oldenburg und Lütjenburg im Kreis Ostholstein gelegen) auch Schleswig-Holstein ins Spiel, wenn auch hauptsächlich aus Klanggründen:

Der Bürgermeister von Kükelühn
ist weder übermütig noch kühn
und heißt Günter Lütze.

Wenn er frühmorgens ein Lüftchen spürt,
das vielleicht zur Verkühlung führt,
benützt er 'ne dünnwollne Mütze.

Hansjörg Martin: Ü-Lied. In: Queerbeet durch Tag und Traum. Texte aus fast fünfzig Jahren. Husum: Edition Euterpe 1990, S. 74.

Gelegentlich bekommt man in seinen Texten einen Eindruck davon, wie Martin literarisches und persönliches Engagement miteinander verbindet: Der Verweigerer (1980) ist nicht nur ein ungemein praktisch angelegtes Buch für Jugendliche, das anhand einer fiktiven Geschichte, aber unter Einbezug realer Dokumente einen Leitfaden für die schwierige Frage der Kriegsdienstverweigerung bietet, sondern schöpft auch aus den Erfahrungen des Autors als Mitglied eines entsprechenden Prüfungsausschusses. Auch sonst war Martin, der seit 1963 in Wedel (Holstein) lebte, niemand, der sich vornehm vom Tagesgeschehen ferngehalten hätte: Er engagierte sich in der Lokalpolitik, war lange Ratsherr für die SPD und generell „[e]twas gegen den Strich gebürstet“ und deswegen im Ort nicht immer „wohl gelitten“, wie sich ein Weggefährte erinnert. #2 Neben den Landschaften Norddeutschlands galt Martins Liebe der Insel Mallorca, über die er 1994 einen Band mit Impressionen veröffentlichte. Hier starb er 1999.

Für seine Verdienste um den deutschen Kriminalroman erhielt Martin 1986 das Bundesverdienstkreuz. Drei Jahre später konnte er den vom „Syndikat“ der deutschsprachigen Kriminalschriftsteller*Innen einen „Ehren-Glauser“ für sein Lebenswerk entgegennehmen. Von 2000 bis 2019 trug der von derselben Institution verliehene Preis für Kinder- und Jugendkrimis seinen Namen.

27.6.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Hansjörg Martin: „Medizin in Bonbonbeuteln“ oder Die Situation des deutschen Krimis und seiner Autoren. In: Karl Ermert, Wolfgang Gast (Hrsg.): Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie 1985, S. 81-87, hier S. 82.

2 Inge Jacobshagen: Das Kiwi-Kino feiert Hansjörg Martin. Uetersener Nachrichten vom 9.4.2015, https://www.shz.de/lokales/wedel-uetersen-tornesch/artikel/das-kiwi-kino-feiert-hansjoerg-martin-41508845.