Thusnelda Kühl

Kühl, Thusnelda.

Dichterin und „literarische Soziologin“ der Marschen

Geboren in Kollmar am 14. August 1872
Gestorben in Rendsburg am 24. Juli 1935

Ihren Zeitgenoss*Innen galt sie als klassische Heimatdichterin. Ein konservativer Journalist beschreibt Thusnelda Kühl 1932 als „[d]es Friesenlandes heimatstolze Dichterin“ und versucht, sie für ein antimodernes literarisches Programm nach der Art von Adolf Bartels zu vereinnahmen: „eine Heimatkunst, die den ernsten, von der auf literarischem Gebiete sich immer mehr breit machenden perversen, dekadenten Richtung nicht angekränkelten Leser in unserer künstlich gereizten Zeit angenehm und wohltuend berühren muß.“#1 Nach einer Zeit der Vergessenheit hat die Autorin seit den 1990er Jahren wieder Aufmerksamkeit gefunden, diesmal unter einem ganz anderen Vorzeichen: Ihre neuen Anhänger*Innen, allen voran der Soziologe und Mitbegründer der Thusnelda-Kühl-Gesellschaft Arno Bammé, sehen in Kühl eine „moderne Schriftstellerin“, die in „soziographischer“ Weise ihre Umgebung analysiert und so zu einer „Chronistin ihrer Landschaft“ wird. #2 Dass eine solche Wiederentdeckung und Neudeutung der Autorin überhaupt möglich ist, zeigt, dass ihre Werke komplexer und vielschichtiger sind, als das Etikett „Heimatliteratur“ das nahelegt.

Thusnelda Kühl wurde 1872 in Kollmar (Kreis Steinburg) geboren. 1876 zog ihre Familie nach Oldenswort auf der Halbinsel Eiderstedt, die später in ihrem Werk ein entscheidender Schauplatz werden sollte: Laut ihrer Selbstauskunft ist „die weite, ruhevolle, immergrüne Marsch – von Meeresdeichen umsäumt, durch baumumstandene Bauernsitze und zahlreiche dorfumschlossene Kirchen geschmückt, […] meines Herzens Heimat geblieben.“ #3 Nach dem Schulbesuch in Lübeck und Flensburg und einer Ausbildung zur Lehrerin in im heute dänischen Augustenburg arbeitete sie in ihrem Beruf in verschiedenen Orten, darunter Friedrichstadt und Oldenswort. 1903 wurde sie – ungewöhnlich für schreibende Frauen ihrer Zeit – freie Schriftstellerin und zog nach Meldorf. Drei Jahre zuvor war ihr Erstlingswerk, die Erzählung Am grauen Strand, am grauen Meer erschienen, und in den folgenden Jahren sollten in rascher Folge weitere Romane und Erzählungen folgen, darunter 1904 ihr bekanntestes Buch, der Roman Der Lehnsmann von Brösum. 1905 heiratete sie den Schuldirektor Julius Petersen und zog mit ihm nach Nortorf, veröffentlichte aber weiter unter ihrem Mädchennamen.

Schon Kühls erste Buchveröffentlichung Am grauen Strand, am grauen Meer, die später unter dem veränderten Titel Das Pfarrhaus von Herbersfleth neu aufgelegt wurde, entwirft ihr erzählerisches Programm. Dieses sieht auf den ersten Blick tatsächlich nach relativ konventioneller „Heimatliteratur“ aus: Die Eiderstedter Schauplätze sind schnell erkannt und werden unter Einsatz von allerlei Deichromantik geschildert, und ein harter Gegensatz zwischen Stadt und Land, zwischen Berliner Frivolität und nordfriesischer Ursprünglichkeit, strukturiert die Erzählung. Schon hier ist die Welt aber komplizierter, als es zunächst scheint, und insbesondere bei der Charakterisierung der beiden Frauen, zwischen denen sich der Protagonist entscheiden muss, beweist Kühl ihr Talent zur Differenzierung – ihr Wohlwollen gilt durchaus nicht nur der kindlichen und unschuldigen Halbwaisen Martha, sondern auch ihrer lebenslustigen, städtischen, „moderneren“ Konkurrentin. Allzu eindeutige Festlegungen, die beispielsweise das Werk ihrer Zeitgenossin Helene Voigt-Diederichs prägen, vermeidet sie.

In den folgenden Werken baut Kühl diese Vielstimmigkeit noch aus. Der Lehnsmann von Brösum oder die lange Erzählung Rüm Hart – Klar Kimming (1903) zeigen die scheinbar so simple und leicht charakterisierbare Dorfgesellschaft als Ort der differenzierten Auseinandersetzung über komplexe Themen. Die Modernisierung der Gesellschaft, das Verhältnis von Stadt und Land, die Rolle von Kunst und Religion und nicht zuletzt die sogenannte Frauenfrage – all diese Themen werden in Kühls Texten in Gesprächsform verhandelt, und verschiedene Positionen werden nebeneinandergestellt, ohne dass notwendigerweise eine „Auflösung“ in diese oder jene Richtung erfolgt.

Auch formal ist Kühls Werk erstaunlich offen: Während die frühen Texte noch relativ konventionell konstruiert sind und zielstrebig auf den Höhepunkt der Handlung zulaufen, zeichnen sich ihre späteren Romane durch einen lockereren Aufbau aus, und verschiedene Schauplätze, Protagonisten und Szenen werden unter Einbeziehung von einmontiertem Material wie Briefen auf komplexe Weise zusammengefügt. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht der Text Harro Harring, der Friese (1906). Nicht nur wendet sich Kühl in ihrem einzigen größeren nichtfiktionalen Text der nordfriesischen Literaturgeschichte zu, sondern sie tut das auch in formal innovativer Weise, indem sie in ihrer gut recherchierten Biografie des Freiheitskämpfers erzählerische mit wissenschaftlich klingenden Abschnitten mischt und auch Harrings eigene Texte recht großzügig einstreut.

In ihrem späteren Werk emanzipiert sich Kühl weiter von den Traditionen des Heimatromans, die männliche Heldenfiguren vorsehen, und stellt Frauen in den Mittelpunkt ihrer Geschichten, die es auch in den Titel ihrer Bücher – Margaret Wendt, Die junge Margarete Haller, Renate Westedt – schaffen. Der letztgenannte Roman von 1915 ist ihre letzte Buchveröffentlichung. Warum sie (bis auf einige kleiner Veröffentlichungen in Zeitschriften) verstummte, ist unklar, scheint aber mit der Spannung zwischen ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter und ihren literarischen Ambitionen zu tun zu haben. Ihr Sohn berichtet in den 1990er Jahren, dass Kühls Kinder nichts von der schriftstellerischen Tätigkeit ihrer Mutter wussten, und vermutet „eine gewisse Eifersucht meines Vaters auf die Erfolge meiner Mutter“. #4 Gerade weil sie in ihren Romanen die Schicksale von Frauen geschildert hat, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen hadern, sich aber am Ende arrangieren müssen, mutet es geradezu tragisch an, dass auch die Autorin selbst am Ende diesen Weg gegangen ist:

[E]ntscheidend ist, wie Thusnelda Kühl für sich das Spannungsverhältnis zwischen familiären Anforderungen und literarischen Ambitionen auflöst: nach dem Muster ihrer Romanfiguren. Auf dem Wege zu ihrer Selbstverwirklichung als Schriftstellerin hat sie den letzten Schritt nicht vollzogen, ist den Weg nicht gegangen mit der Radikalität, wie ihn zum Beispiel Franziska von Reventlow abgeschritten hat bis zum bitteren Ende. Sie ist den Frauengestalten in ihren Romanen gefolgt. Sie hat der Schriftstellerei, ihrem Jugendtraum, entsagt. Die Verhältnisse haben sie zum Verstummen gebracht.

Arno Bammé: Vergesst die Frauen nicht! Die Halligen, das Meer und die Weiblichkeit des Schreibens. Neumünster: Wachholtz 2007, S. 57.

Obwohl sie bedauerlicherweise kaum mehr gelesen wird, ist Thusnelda Kühl insbesondere in ihrer Heimatregion nicht vergessen. In der Ortsmitte von Oldenswort erinnert ein imposanter Gedenkstein an die Dichterin, und in ihrem späteren Wohnort Nortorf sind sowohl an ihrem ehemaligen Wohnhaus (Lohkamp 1) als auch im Stadtpark Gedenktafeln angebracht. 1992 gründete sich in Oldenswort die Thusnelda-Kühl-Gesellschaft, die bis 2014 bestand und etliche Werke der Dichterin als Neuauflagen sowie einen Band mit bisher nicht als Buch veröffentlichten Schriften herausgebracht hat.

21.9.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Johannes Jasper: Thusnelda Kühl. Eiderstedter Nachrichten vom 11.8.1932. Zitiert nach Arno Bammé (Hrsg.): Thusnelda Kühl. Die Dichterin der Marschen. München/Wien: Profil 1992, S. 161 u. 162.

2 Arno Bammé: Vergesst die Frauen nicht! Die Halligen, das Meer und die Weiblichkeit des Schreibens. Neumünster: Wachholtz 2007, S. 40.

3 Thusnelda Kühl: Unsere Uhren. Skizzen [1911]. Zitiert nach: Gustav Friedrich Studt: Stiller und stiller wurde es um sie. In Arno Bammé (Hrsg.): Thusnelda Kühl. Die Dichterin der Marschen. München/Wien: Profil 1992, S. 167.

4 Ralph Petersen: Erinnerungen an meine Mutter. In: Arno Bammé (Hrsg.): Thusnelda Kühl. Die Dichterin der Marschen. München/Wien: Profil 1992, S. 205-214, hier S. 209.