Fanny Gräfin zu Reventlow
Reventlow, Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu; (Auch: Franziska Gräfin zu Reventlow; F. Gräfin zu Reventlow).
Rebellische Aristokratin und Chronistin der Schwabinger Bohème
Geboren in Husum am 18. Mai 1871
Gestorben in Muralto am 25. Juli 1918
Die auch unter dem Vornamen Franziska bekannte Fanny zu Reventlow gehört in der Literaturgeschichte Schleswig-Holsteins zu den Autorinnen und Autoren, die das Land erst hinter sich lassen mussten, um künstlerisch zu sich selbst zu finden. Im Fall der 1871 als Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu Reventlow geborenen Dichterin war dazu ein besonders entschiedener und konsequenter Schnitt notwendig: Zwar wuchs sie in Husum und später in Lübeck als Tochter eines Landrats in privilegierten Verhältnissen auf, aber ihre zum holsteinischen Uradel gehörende Familie hatte keinerlei Verständnis für ihre Absicht, als Frau im Leben etwas anderes als eine vorteilhafte Heirat anzustreben. Ihr Wunsch nach persönlicher und künstlerischer Eigenständigkeit konnte deswegen nur über den vollständigen und schmerzhaften Bruch mit der Familie verwirklicht werden. 1897, nach diesem Bruch, schreibt Reventlow in der Frankfurter Zeitung über Theodor Storm, der ein Freund der Familie gewesen war und über ihren früh verstorbenen Bruder Theodor eines seiner bekanntesten Gedichte #1 geschrieben hatte. In der Beschreibung von Storms ruhiger, unaufgeregter Künstlerexistenz wird der Kontrast zu ihrem eigenen unsteten und oft wohl auch unglücklichen Leben besonders deutlich:
Storm hat nie zu denen gehört, die Unrast des Genies auf unruhig verschlungenen Wegen durch die Welt umtreibt. Ihn hat der kleine Kreis, in dem sein Leben verlief, nie im freien künstlerischen Schaffen eingeengt.
Dass Reventlow sich in ihrem eigenen „kleinen Kreis“ anders als Storm überhaupt nicht entfalten konnte, liegt maßgeblich an ihrem Geschlecht: Sie hat in ihren Schriften immer wieder deutlich gemacht, wie dünnhäutig ihr familiäres Umfeld auf vermeintliche Provokationen von Frauen reagierte, während beispielsweise ihren Brüdern wesentlich größere Freiräume zugestanden wurden. Weil sie sich dem partout nicht fügen wollte, blieb ihr am Ende nur die Flucht in die freiere, aber auch prekärere Welt der Münchener Bohème. Hier versuchte sie sich zunächst als Malerin, später auch als Schriftstellerin und wurde als unabhängige Frau, alleinstehende Mutter und sich selbst so bezeichnende „Hetäre“ zum Faszinosum. Bei alldem litt sie unter größter finanzieller Not, konnte sich aber völlig neu erfinden und nicht zuletzt in ihren Romanen und Zeitungsartikeln auch ihre eigene Geschichte neu erzählen. Aus der missratenen Tochter aus gutem Hause wurde so die „Schwabinger Gräfin“´, die die literarische Öffentlichkeit ebenso faszinierte wie schockierte.
Aus der selbstgeschaffenen Existenz als urbane, ja mondäne Gestalt der Subkultur gibt es keinen einfachen Weg zurück in die eigene provinzielle Vergangenheit. Das zeigt uns die Autorin in einem Feuilletonbeitrag für die Husumer Nachrichten, der einen Besuch in der alten Heimat schildert:
Nach Jahren kam ich wieder in meine Heimat […]. Ich hatte erwartet, daß mein Herz unter einem großen übermächtigen Einsturm von Empfindungen, Erinnerungen – Sehnsucht sich weiten würde, und nun – zog es sich traurig, verständnislos zusammen, ich war fremd geworden.
Selbst die norddeutsche Landschaft, die aufgesucht wird, um das alte Gefühl der Verbundenheit wiederzubeleben, kann nicht dazu beitragen, dass die Besucherin sich mit den Schauplätzen ihrer Kindheit identifizieren kann. Sie lauscht „den Heimatstönen draußen am Deich, wo das Meer gegen den Steindamm schäumte“, und begibt sich damit genau an den Ort, der in ihrem Text über Storm als der Lieblingsort des Dichters beschrieben wird, aber im Gegensatz zu ihrem berühmten Bekannten gelingt es ihr nicht, dieser Szenerie literarisch etwas abzugewinnen, und sie bleibt „fremd und heimatslos“. #2
Wenngleich die Rückkehr in den Norden Reventlow also verwehrt ist, gelingt es ihr durchaus, ihre alte Heimat in der Rückschau aus dem Süden literarisch produktiv zu machen. Besonders in ihrem ersten, 1903 erschienenen Roman Ellen Olestjerne setzt sie sich intensiv mit ihrer eigenen Husumer Jugend auseinander. Sie tut das nicht in Form einer Autobiografie – Ellen ist eine literarische Figur und nicht identisch mit ihrer Autorin –, aber doch in einer Weise, die nahe genug am eigenen Leben ist, um auch von den Zeitgenoss*Innen als autobiografisch geprägt wahrgenommen zu werden. Auf diese Weise kann die längst zur Skandalfigur avancierte Gräfin nicht zuletzt an ihrer eigenen Legende arbeiten: Ihre Existenz als scharfzüngige, sexuell fortschrittliche Freidenkerin wird durch den Roman mit einer Vorgeschichte versehen. Diese beginnt im Roman mit der Familie, die standesgemäß im (fiktiven) Schloss Nevershuus residiert und der jungen Ellen keinen Raum zur Entfaltung bietet. Dass das kein Zufall ist, merkt die Protagonistin recht schnell:
Ellen kam allmählich zu dem Schluß, es läge alles nur daran, daß sie ein Mädchen war; das bekam sie ja unzählige Male zu hören: Kleine Mädchen dürfen nicht so wild sein – kleine Mädchen klettern nicht auf Bäume – kleine Mädchen müssen ihre Kleider schonen […]. Manchmal klagte sie dann verzweifelt dem Mädchen ihr Leid. „Wenn ich doch nur ein Junge wäre!
Obwohl sie also weiß, dass ihre Umwelt von tiefer Misogynie geprägt ist, und obwohl sie eine willensstarke, talentierte Person ist, gelingt es Ellen zunächst nicht, sich aus der Unterdrückung durch die Familie zu lösen – zu abgeschieden ist ihr Leben auf dem Schloss, zu übermächtig sind die Kontrollmechanismen der Eltern und der älteren Geschwister. Erst die Tanzstunde in der benachbarten Stadt erweckt in ihr die Erkenntnis, dass es eine Welt außerhalb ihrer beengten Verhältnisse gibt:
Es bekam alles eine andere Perspektive. Ellen hatte bis dahin nur in sich selbst hineingelebt in dem engen Kreise, den man um sie zog. Jetzt fing die Welt an, sich zu weiten, sie sah: es gab noch ein Leben, das jenseits der Mauer lag, das rascher pulsierte und reich an lockenden Erregungen war.
Die Suche nach diesem anderen Leben bestimmt fortan ihre Existenz, und weil die konservative Familie unerbittlich in ihrem Widerstand gegen ihre „Emanzipationsgeschichten“ #3 ist, muss Ellen umso unerbittlicher sein, um am Ende die Flucht antreten zu können. Ihre Befreiung muss sie auf künstlerischem, aber auch auf sexuellem Gebiet erreichen: Die Eltern halten nichts von ihren Plänen, Malerin zu werden oder überhaupt irgendeinen Beruf anzustreben, und erst recht sind sie davon schockiert, dass Ellen nicht auf eine arrangierte Ehe warten, sondern Liebe und Sexualität nach ihren eigenen Regeln erkunden will. Den geistigen Antrieb für ihre Rebellion liefern ihr Autoren wie Ibsen oder Nietzsche, die sie – wie Reventlow selbst – heimlich und als Mitglied des Lübecker „Ibsen-Clubs“ liest. Der Roman schildert anschaulich, welche elektrisierende Wirkung solche verbotenen Lektüren auf die Jugend des späten 19. Jahrhunderts hatten. Als Ellen und ihr jüngerer Bruder mit Nietzsches Zarathustra in Berührung kommen,
bebten beide – der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne – jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los, sagte etwas, was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte, wonach man im Dunkeln herumgetappt hatte und geglaubt, es nie zu finden. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen – es war Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte – brausend, berauschend, überwältigend.
In solchen Passagen voller sprachlicher Wucht zeigt der Roman seine Nähe zu den literarischen Avantgarden der Zeit, wenngleich er ansonsten durchaus eigenständig ist. Ellens Geschichte endet nach einigen amourösen Verwicklungen, die der Heldin jeweils etwas mehr Freiheit und Selbsterkenntnis bescheren, mit der Geburt ihres Kindes. Diese verleiht ihrem gesamten unsteten Leben rückblickend Sinn:
Mein Weg war wohl oft dunkel und blutig, ich habe den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen und seinen Blicke gefühlt, den Wahnsinn und die letzte Verzweiflung – nun sehe ich dem Leben ins Auge und bete es an, weil ich weiß, daß es heilig ist.
Das existenzielle Pathos, das in solchen Passagen mitschwingt, wird Reventlow in ihren folgenden Werken vermeiden, wenngleich die Themen ähnlich bleiben. Ihr zweiter Roman, Von Paul zu Pedro, ist wiederum die (in Briefen erzählte) Geschichte einer unabhängigen, sexuell selbstbestimmten Frau, aber deren „Amouresken“ (so der auf Wunsch des Verlegers hinzugefügte Untertitel) werden in einem ironischen, unbekümmerten Tonfall erzählt, der sich um die Bedenken des konservativen Briefpartners nicht schert. In ihrem heute vielleicht bekanntesten Werk Herrn Dames Aufzeichnungen weitet sie schließlich die Perspektive und nimmt nicht mehr nur die eigene Lebensform, sondern die gesamte Künstlerszene Schwabings in den Blick, das im Roman als „Wahnmoching“ firmiert. Der turbulente Roman war für die Zeitgenoss*Innen auch deswegen interessant und skandalös, weil in ihm leicht identifizierbare reale Figuren des Schwabinger Geisteslebens auftreten, aber auch wer sich nicht für Karl Wolfskehl, Stefan George oder Ludwig Klages interessiert, kann seine Freude an dieser amüsant-chaotischen „Enzyklopädie der Münchner Moderne“ #4 haben. Dasselbe gilt für das folgende Werk Der Geldkomplex: Der letzte zu Lebzeiten erschienene Roman Reventlows setzt sich mit der notorischen Geldknappheit der Autorin auseinander und ist sarkastisch ihren Gläubigern gewidmet, ist aber auch jenseits der biografischen Ebene unterhaltsam und lesenswert.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen schließlich diejenigen nicht-fiktionalen Texte Reventlows, in denen sie die auch in den Romanen unübersehbaren feministischen Positionen näher erläutert. Hier wird deutlich, dass sie einerseits ganz konkrete politische Forderungen hat, die mit denen der entstehenden feministischen Bewegung übereinstimmen:
[D]ie Frauen der arbeitenden Klasse aus ihrer Misere zu befreien, ihnen bessere Lebensbedingungen, höhere Löhne zu schaffen, sich der Kinder und Wöchnerinnen, besonders der unehelichen, anzunehmen, alles das ist der […] Kern der ganzen Bewegung, dem wohl kein vernünftig und human denkender Mensch seine Anerkennung versagen wird.
Andererseits ist es ihr ein Anliegen, eine gewisse Distanz zum organisierten Feminismus zu wahren: ihr avantgardistischer und aristokratischer Habitus verwehrt es ihr wohl, jemals Teil einer Bewegung zu sein. Überdies ist sie anders als die meisten ihrer feministischen Zeitgenossinnen der Auffassung, dass Männer und Frauen schon biologisch zu unterschiedlich sind, um völlige Gleichheit der Geschlechter zu ermöglichen:
Wozu hat die Natur denn überhaupt männliche und weibliche Wesen mit ihrer ewigen Verschiedenheit hervorgebracht? Wozu der anatomische Unterschied, der den Mann von vorneherein zum Angreifenden, Ausübenden und das Weib zum Empfangenden, sich Unterwerfenden macht?
Trotz dieser Betonung der Differenz haben es ihre Schlussfolgerungen aber durchaus in sich: Mit der ihr eigenen Radikalität fordert sie nicht nur die Aufwertung „weiblicher“ Tätigkeiten, sondern auch das Ende der Institution Ehe und eine völlige Umgestaltung der Sexualmoral, die sie im wilhelminischen Deutschland als verlogen und sexistisch wahrnimmt:
So geht mir doch mit der Behauptung, die Frau sei monogam! – Weil ihr sie dazu zwingt, ja! Weil ihr sie Pflicht und Entsagung lehrt, wo ihr sie Freude und Verlangen lehren solltet. […] Was ist denn ästhetischer und im wahren Sinne moralischer: wenn ihr eure blühenden Mädchen zu abgestorbenen Gespenstern macht und eure Söhne ins Bordell schickt, oder wenn ihr sie sich miteinander in Schönheit ihres Lebens freuen laßt?
Die streitbare und furchtlose Kritikerin jeglicher Doppelmoral, die hier durchscheint, verdient heute ebenso gelesen zu werden wie die Romanautorin Reventlow. In ihrer Heimatstadt Husum ist eine Straße nach ihr benannt.
24.03.2021Jan Behrs
ANMERKUNGEN
1 Gemeint ist das Gedicht Geh nicht hinein von 1879, in dem der erschütternde Eindruck thematisiert wird, den der Anblick der Leiche des sechszehnjährigen Theodor von Reventlow auf Storm gemacht hat. Franziska von Reventlow schildert in ihrem autobiografischen Roman Ellen Olestjerne eine ähnliche Szene aus der Perspektive der Schwester des Verstorbenen.
2 Franziska zu Reventlow: Nach Jahren. Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Michael Schardt. Bd. 5: Gedichte, Skizzen, Novellen, Sonstiges. Oldenburg: Igel 2004, S. 47. In den Erinnerungen an Theodor Storm wird der Seedeich in Husum als Lieblingsort Storms und mit sehr ähnlichen Worten beschrieben.
3 Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne. Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Michael Schardt. Bd. 1: Romane 1. Oldenburg: Igel 2004, S. 85.
4 Andreas Thomasberger: Nachwort. In: Franziska zu Reventlow: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Michael Schardt. Bd. 2: Romane 2. Oldenburg: Igel 2004, S. 314.
Veranstaltungen
Keine Veranstaltungen vorhanden
WERKE
• Ellen Olestjerne. Roman. München: Verlag Dr. J. Marchlewski 1903.
• Von Paul zu Pedro. Amouresken. München: Albert Langen 1912.
• Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil München: Albert Langen 1913.
• Sämtliche Werke, Tagebücher und Briefe in fünf Bänden. Hrsg. v. Michael Schardt u.a. Oldenburg: Igel 2004.
• „Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich“. Tagebücher 1895–1910. Aus dem Autograf textkritisch neu hrsg. & kommentiert von Irene Weiser und Jürgen Gutsch. Passau: Stutz 2006.