Heinrich Wilhelm von Gerstenberg

Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von; Pseudonyme: Ohle Madsen; Zacharias Jernstrup; Irmenfried Wetstein

Lyriker und Verfasser des "Ugolino"

Geboren in Tondern / Tønder am 3. Januar 1737
Gestorben in Altona am 1. November 1823

Der einzige Sohn eines in dänischen Diensten stehenden Rittmeisters zeigt schon früh seine Begabung für kritische Analyse und eigenes lyrisches Schaffen. Nach der Grundschulzeit in Husum wechselt Heinrich Wilhelm von Gerstenberg 1751 ans Christianeum, das Gymnasium Academicum in Altona. Hier entstehen nicht nur erste Gedichte und kritische Abhandlungen, die der junge Gymnasiast in seinem Tagebuch sammelt; durch den Schuldirektor, Gottfried Schütze, wird obendrein sein lebenslanges Interesse für die nordische Mythologie geweckt.

Sein anschließendes Jurastudium in Jena (1757-59) vernachlässigt Gerstenberg schon bald, nachdem er der „Deutschen Gesellschaft“ beigetreten ist, die sich aktiv der Pflege der deutschen Sprache widmet und durch die der Zwanzigjährige zahlreiche Kontakte zu Zeitgrößen wie Christian Fürchtegott Gellert, Christian Felix Weiße und Jacob Friedrich Schmidt schließt. Der junge Mitstudent Matthias Claudius wird durch Gerstenberg zur Dichtkunst animiert. Gerstenberg selbst veröffentlicht die anakreontischen Lyriksammlungen Tändeleyen und Prosaische Gedichte (beide 1759), bevor er im Sommer 1760 „aus Versorgungsgründen“ #1 für zwei Jahre als Kornett und Adjutant in den dänischen Militärdienst eintritt. Während dieser Zeit verfasst er unter dem Pseudonym Ohle Madsen ein Reiterhandbuch und übersetzt Jean Baptiste d'Espagnacs Versuch über den Großen Krieg. 1762 gibt er die Wochenzeitung Der Hypochondrist heraus, eine „holsteinische Wochenschrift“ nach Vorbild des englischen „Tatler“, zu der er auch eigene Texte beisteuert. Nach nur 25 Ausgaben geht die Zeitschrift allerdings in Konkurs. Umso erfolgreicher sind hingegen seine 1763 veröffentlichten Kriegslieder eines Königlich Dänischen Grenadiers bey Eröffnung des Feldzugs 1762, die begeisterten Anklang finden.

Im September 1763 verlobt sich Heinrich Wilhelm von Gerstenberg mit der Schleswigerin Sophie Trochmann, zieht nach der Heirat 1765 nach Kopenhagen und zeugt mit ihr in den nächsten Jahren sieben Kinder. Sein Wiedereintritt ins dänische Militär bedeutet allerdings nur vorübergehend eine Beruhigung der stets prekären finanziellen Situation, denn durch die Umstrukturierung des Heerwesens infolge des Todes König Friedrichs V. Anfang 1766 kürzt man Gerstenbergs Sold auf weniger als ein Viertel herunter. Dennoch wird Kopenhagen zur bis dato wichtigsten und produktivsten Station im Leben des Dichters und Denkers:

Dort verbrachte er im geistig regen, musikbegeisterten deutschen Kreis um Bernstorff seine fruchtbarsten und glücklichsten Jahre. Er befreundete sich mit Klopstock und J. A. Cramer eng […]. Durch seine Veröffentlichungen trat er in Briefwechsel mit Gellert, Gleim, Lessing, Herder und Goethe wie Philipp Emanuel und Johann Chr. Friedrich Bach. Dem Göttinger Hain stand er wegen seiner Klopstockverehrung nahe.

Käte Lorenzen: „Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 6. München 1964, S. 326.

Neben zahlreichen Übersetzungen, Sammlungen früher literarischer Zeugnisse, Aufsätzen zur Musikästhetik und diversen Opernlibretti, entstehen in dieser Zeit auch einige seiner Hauptwerke, allen voran 1766 das epische Gedicht eines Skalden, in dem sich Gerstenbergs am Altonaer Christianeum gewecktes Interesse für nordische Mythologie poetisch niederschlägt.  

In seinen zwischen 1766 und 1770 erscheinenden Briefen über Merkwürdigkeiten der Litteratur, den sogenannten „Schleswiger Literaturbriefen“, befasst er sich erneut mit altnordischer Dichtung und entwickelt am Beispiel Homers und William Shakespeares den Genie-Begriff als ästhetisch-theoretische Grundlage des Sturm und Drang. In vielerlei Hinsicht erweist sich Gerstenberg in den nächsten Jahren als geradezu wegweisend:

Das Drama „Ugolino“ (Hamburg und Bremen 1768) war sein dichterischer Beitrag zum Sturm und Drang. Jedoch ging er über dessen radikale Ablehnung aller Regeln hinaus und antizipierte die Kunstauffassung der Klassik und Romantik, indem er eine „innere Form“ des Kunstwerks forderte. Auch Sprachtheorie und Poetik waren seiner Zeit voraus. So schuf er vor Herder in der Lyrik die Liedtheorie, die nach Klopstocks Anfängen Goethe erst verwirklichte.

Käte Lorenzen: „Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 6. München 1964, S. 326.

Hochverschuldet nimmt Gerstenberg 1771 seinen Abschied vom Militär und tritt der deutschen Kanzlei in Kopenhagen bei, ehe er 1775 das Amt des Konsuls in Lübeck übernimmt, das er bis 1783 bekleidet, noch immer von ständiger Geldnot geplagt. Nachdem er den Konsulstitel für 20.000 Taler verkauft hat, siedelt die Familie nach Eutin um, wo seine Frau Sophie 1785 verstirbt. Längst ist da auch bereits Gerstenbergs fruchtbarste schöpferische Phase beendet.

In den folgenden Jahrzehnten, in denen er, trotz Anstellung als Justizdirektor der Lotterie in Altona, weiterhin hochverschuldet bleibt, veröffentlicht er nur noch sporadisch, fördert die Theorien Immanuel Kants, heiratet ein zweites Mal (die deutsch-englische Kaufmannstochter Sophie Ophelia Stemann) und vernichtet, von Selbstzweifeln geplagt, einen Großteil seiner philosophischen Abhandlungen.

Drei Jahre nach seiner Pensionierung verleiht ihm die Kieler Universität 1815 die Ehrendoktorwürde. Die Herausgabe seiner gesammelten Schriften in drei Bänden (1815/16) bleibt weitgehend unbeachtet, ebenso wie sein Tod am 1. November in Altona im hohen Alter von 86 Jahren.

21.6.2021 Jens Raschke

ANMERKUNGEN

1 Käte Lorenzen: „Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 6. München 1964, S. 325.