Ein Holsteiner in der Hölle: Die Vision des Bauern Gottschalk

Ein Ehrenbürger Schleswig-Holsteins, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, hat 1980 in der ihm eigenen Brüskheit verkündet, wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen. Der bis heute gerne zitierte Satz scheint einen norddeutschen Hang zum Handfesten und Bodenständigen zu belegen, der auch in der schleswig-holsteinischen Literatur anzutreffen ist – man denke etwa an die zahlreichen Kaufmannsromane des Landes (nicht nur von Thomas Mann), die von Menschen handeln, die das Sachliche und Konkrete lieben und leben. Andererseits hat natürlich auch die „Spökenkiekerei“ ihre Spuren in der Literaturgeschichte hinterlassen, beispielsweise im wohl bekanntesten literarischen Text aus Schleswig-Holstein überhaupt, Theodor Storms  Schimmelreiter. Das Übersinnliche hat also durchaus auch seinen Platz zwischen Marsch und Geest, und das bis in die Gegenwart, wenn wir an Figuren wie „Marret Ünnergang“ aus Dörte Hansens Roman Mittagsstunde denken. Vor diesem Hintergrund ist es dann auch nicht überraschend, dass einer der ältesten Texte, den wir überhaupt aus Schleswig-Holstein kennen, die Beschreibung einer Vision ist: Im Dezember 1189 nimmt ein Bauer namens Gottschalk (Godeschalcus) an der Belagerung von Bad Segeberg teil, nachdem es ihm nicht gelungen war, wegen seines schlechten Gesundheitszustands vom Kriegseinsatz verschont zu werden. Er bekommt Fieber und haucht kurz darauf sein Leben aus – scheinbar, denn nach einigen Tagen erholt er sich und erzählt zwei eilig herbeigeeilten Protokollanten von seinen Visionen, die diese unabhängig voneinander in zwei Berichten in lateinischer Sprache niederschreiben. Auf diesem Wege haben Gottschalks Eingebungen es zu einem gewissen Ruhm gebracht – kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz bemühte sich im frühen 18. Jahrhundert um eine Edition. Wie die etwas früher entstandene Slawenchronik des Helmold von Bosau bieten uns die Visionen Gottschalks einen Einblick in die doch recht fremde Zeit der Slawenkolonisation in Holstein. Darüber hinaus kann man sie aber auch als Literatur lesen, wenngleich sie natürlich ganz anders funktionieren als ein moderner Erzähltext: Die beiden Zeitzeugen, vermutlich Geistliche aus Neumünster und Nortorf, schreiben Gottschalks Geschichte nicht auf, um ihre Leser*Innen zu unterhalten, sondern weil sie ihnen die Notwendigkeit eines christlichen Lebenswandels vor Augen führen wollen. Angesichts der Tatsache, dass Gottschalk in Harrie (heute Großharrie) bei Neumünster und damit direkt im Grenzgebiet zum nichtchristlichen, slawischen Wagrien lebte, hatte diese Botschaft eine besondere Dringlichkeit, und entsprechend drastisch sind die Texte. Besonders der Autor des ersten Berichts ist ein talentierter Erzähler, und seine Geschichte liest sich durchaus spannend: Nach seinem vermeintlichen Tod treten zwei Engel auf Gottschalk zu und verhalten sich „freundlich […], gar nicht, als ob er ein Fremder sei“. #1 Er erhält von diesen Engeln eine Führung durch die Bereiche, die die Seelen der Frischverstorbenen sonst auf eigene Faust durchwandern müssen, und kann so die außerordentliche Brutalität bezeugen, unter der die Sünder*Innen zu leiden haben, ohne selbst gequält zu werden:

Jene Unglücklichen aber gerieten im gleichen Augenblick, in dem sie ihren Fuß in den Fluß setzen wollten, ins Wanken und kamen durch die Strömung des Wassers und die unerträglichen Stöße und Schnitte der verschiedenen Klingen zu Fall; sie kamen nicht wieder auf die Füße und wurden von Schnitt-, Quetsch- und Stichwunden so fürchterlich zerfleischt, daß der Leib von manchen kaum noch einem dünnen Haar vergleichbar war […].

Godeschalcus und Visio Godeschalci. Mit deutscher Übersetzung herausgegeben von Erwin Assmann. Neumünster: Wachholtz 1979, S. 67.

Gottschalk erweist sich angesichts des Katalogs von Grausamkeiten, die er beobachten muss, als recht beherrschter Betrachter, der sich – anders als beispielsweise der düdesche Schlömer von Johannes Stricker aus dem 16. Jahrhundert – keine Sorgen um die eigenen Sünden zu machen scheint. Stattdessen interessiert er sich für pragmatische Fragen: Wer wird auf welche Weise bestraft, und wer bleibt warum von der Folter verschont? Es zeigt sich, dass das Totenreich, das er besichtigen darf, durchaus zweckmäßig organisiert ist: Für jedes Vergehen gibt es eine genau festgelegte Bestrafung, und je nach der begangenen Sünde wird jede*r Einzelne von einem Engel auf den richtigen, mehr oder weniger schmerzhaften Parcours durch das Höllenfeuer geschickt. Das gleiche gilt für die Domäne der Seligen, die Gottschalk ebenfalls besuchen darf: Wer nicht ohnehin auf dem direkten Weg in die Seligkeit eingegangen ist – diesen Expressweg bekommt Gottschalk nicht zu Gesicht –, verlebt die Wartezeit bis zum Jüngsten Gericht recht angenehm, aber ebenfalls in genau strukturierter Weise. Je vorbildlicher der zu Lebzeiten gezeigte Lebenswandel, desto strahlender und herrlicher ist auch der zugewiesene Aufenthaltsort im Jenseits. Hier zeigt sich Gottschalk beeindruckter von seiner Umgebung, die alle seine Sinne anspricht: Neben dem strahlenden Licht, das alles erleuchtet und in seiner Intensität kaum zu ertragen ist, erwähnt er den „lauten Jubel“ der hier Versammelten, ihre Feierlichkeiten und einen „wundersame[n], unbeschreiblich süße[n] Duft“, der nicht nur glücklich, sondern auch satt macht. #2 An diesem Ort wird ihm aber auch deutlich gemacht, dass er (noch) nicht dazugehört. Bei einem Fest stimmen die versammelten tugendhaften Verstorbenen einen „Jubelgesang“ an, und Gottschalk ist davon so hingerissen, dass er mitsingen will:

Glaubte er doch, was für einen jeden in diesem Menschengewühl offensichtlich so leicht war, getrost auch selber wagen zu können; aber als er es versuchte, mußte er dabei gründlich die Erfahrung machen, wie völlig ihm beide Gaben, das Wissen und das Können, abgingen. Er fühlte es, sein Geist war zu schwach und seine Stimme zu gequetscht, um ein neues, nie gehörtes, herrliches Lied zum Klingen zu bringen: Ganz verstört war er und verwirrt, und voller Schmerz stimmte er statt eines Gesanges eine Wehklage an, und mit weinerlicher Stimme haderte er, daß er allein nicht vermöge, was allen anderen nicht nur möglich, sondern leicht war und Freude bereitete.

Godeschalcus und Visio Godeschalci. Mit deutscher Übersetzung herausgegeben von Erwin Assmann. Neumünster: Wachholtz 1979, S. 131.

Man kann hier an den überstrapazierten Satz „Holsatia non cantat“ denken – vermutlich haben wir mit dem Bauern aus Großharrie den ersten holsteinischen Nicht-Sänger der Kulturgeschichte vor uns. Schweren Herzens sieht Gottschalk ein, dass er zurück in sein durch Armut geprägtes irdisches Leben muss. Bis er in den Gesang der Seligen einstimmen darf, besteht seine Aufgabe vorerst darin, möglichst vielen Lebenden seine Vision mitzuteilen – mit Hilfe der Geistlichen, die anders als er die Bildung und die Kommunikationskanäle haben, um viele Menschen zu erreichen. Der Autor des zweiten Berichts warnt uns davor, den Bauern Gottschalk als Quelle göttlicher Weisheit zu unterschätzen:

Gewiß wird kein weiser Mensch diese Vision geringachten, nur weil sie von einem einfachen, armen, einfältigen Mann verkündet worden sei – als wäre er es nicht wert gewesen, daß ihm solche Geheimnisse entdeckt würden, und als ob solche Dinge eher wohl denen enthüllt werden sollten, denen Lebensart, Rang und Bildung zuteil geworden sind. Doch was liegt uns schon daran, darüber zu befinden, da der Geist Gottes weht, wo er will.

Godeschalcus und Visio Godeschalci. Mit deutscher Übersetzung herausgegeben von Erwin Assmann. Neumünster: Wachholtz 1979, S. 199.

Vielleicht ist Gottschalk sogar ein besonders gut geeigneter Beobachter des Lebens nach dem Tod: Anders als ein gebildeterer Visionär langweilt er uns nicht mit langen theologischen Überlegungen, sondern zeigt eine pragmatische und bodenständige Auffassungsgabe, die ihm sicherlich auch in seiner bäuerlichen Existenz zugutegekommen ist.

Wenngleich sich die mehr als 800 Jahre, die uns von seiner Vision trennen, nicht wegreden lassen und uns vieles an den Berichten sehr fremd vorkommt – ein nicht kleiner Teil des Berichts besteht aus Gottschalks Report darüber, welche Figuren der Zeitgeschichte und welchen von seinen bereits verstorbenen Bekannten aus Neumünster er im Fegefeuer und wen im Bereich der Seligen gesehen hat –, ist es überraschend, wie spannend auch ein so alter Text sein kann. Seine grundlegende Struktur ist nicht ohne Grund bis in unsere Zeit beliebt: Ein Mensch aus wohlgeordneten Verhältnissen erlebt unerwartet eine abenteuerliche Reise und kehrt am Ende an deren Ausgangspunkt zurück. Man kann an den Herrn der Ringe ebenso denken wie im Bereich des Literaturlands an die Abenteuerromane von Sophie Wörishöffer oder Martin Luserke, vielleicht auch an den Alaska-Reisebericht von Arezu Weitholz, in dem solche Erzählklischees ironisch gebrochen werden. Vielleicht ist es nicht das christliche Leben nach dem Tode, das sich Gottschalk seinerzeit vorgestellt hat, aber auch sein Nachleben in der Literaturgeschichte sichert diesem gottesfürchtigen Bauern eine nun schon viele Jahrhunderte andauernde Beständigkeit.

25.10.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Godeschalcus und Visio Godeschalci. Mit deutscher Übersetzung herausgegeben von Erwin Assmann. Neumünster: Wachholtz 1979, S. 55.

2 Ebd., S. 109.