Ernestine Voß
Voß, Marie Christine Ernestine; geboren als Marie Christine Ernestine Boie.
Geboren in Meldorf am 31. Januar 1756
Gestorben in Heidelberg am 10. März 1834
Es hat lange gedauert, bevor man die Bedeutung von Ernestine Voß, geborene Boie, jenseits ihrer Rolle als Ehefrau, Muse und „gute Seele“ an der Seite ihres berühmten Mannes, Johann Heinrich Voß, erkannt und zu würdigen gelernt hat. 2006 und 2016 sind zwei umfangreiche Biografien über sie erschienen #1. Etwa 300 Briefe, die sie mit ihrem Mann und ihren vier Söhnen ausgetauscht hat, wurden in den letzten Jahren in einer gemeinsamen Aktion der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek und der Eutiner Johann-Heinrich-Voß-Gesellschaft aufwändig restauriert und somit vor der Zersetzung bewahrt #2. Sie bilden nicht nur eine der wichtigsten deutschsprachigen Privatkorrespondenzen des frühen 19. Jahrhunderts, sondern geben darüber hinaus wertvolle Informationen über Alltag und Umwelt:
So wurde darin über seltene Obstbaumsorten genauso geschrieben wie über kalte Winter, die sogar die Einmachgläser zum Platzen gebracht hätten. Die Briefe an Baumeister Hans Voß seien zudem baugeschichtlich wertvoll für die Forschung. […] Die Dokumente [zeichnen] Realgeschichte im Leben von Menschen in Zeiten von Umbrüchen vom Absolutismus über die Französische Revolution bis in die Napoleonische Ära […].
Am 31. Januar 1756 wird Marie Christine Ernestine Boie als Spross der weitverzweigten „hübschen“ (höfischen) Hannoveraner Oberschichtsfamilie Boie in Meldorf, Dithmarschen, geboren. Ihr Vater, Johann Friedrich Boie, ist Prediger in Meldorf und wird später zum Probst in Flensburg ernannt. Mit seiner Gattin, Katharina, geborene Haberkorn, zeugt er insgesamt zwölf Kinder, darunter auch der spätere Gründer des „Göttinger Musenalmanachs“, Heinrich Christian Boie. Er ist es auch, der seine elf Jahre jüngere Schwester 1774 mit seinem Freund und Mitstreiter Johann Heinrich Voß bekanntmacht, zunächst nur über den Weg der Briefkorrespondenz, im Jahr darauf schließlich auch persönlich.
Die Hochzeit Ernestines mit Johann Heinrich Voß findet am 15. Juli 1777 statt. Im Jahr darauf wird der erste Sohn, Friedrich Leopold, in Wandsbek geboren. Wenig später zieht die Familie nach Otterndorf an der Elbmündung, wo Johann Heinrich die Stelle des Direktors der Lateinschule übernimmt. 1782 folgt die Ernennung zum Gymnasialdirektor in Eutin. Hier verstirbt Friedrich Leopold im Alter von nur vier Jahren. In der Zwischenzeit sind bereits die beiden Brüder Heinrich (1779-1822), der später in Heidelberg Professor für Philologie wird, und Wilhelm (1781-1840), der als Arzt in Eutin arbeiten wird, zur Welt gekommen. In Eutin selbst schenkt Ernestine zwei weiteren Geschwistern das Leben: Hans (1783-1849), der als junger Mann als Architekt nach Freiburg i.Br. zieht, und zuletzt Abraham (1785-1847), der als Altphilologe und Pädagoge bekannt wird.
Die Familie bewohnt in Eutin zunächst eine Bleibe in der Wasserstraße, kurz darauf zieht sie ins provisorische Rathaus, den späteren Witwenpalais, am Marktplatz. Seit dem 1. Mai 1784 ist das „Voß-Haus“ im Stadtzentrum fester Wohnort und Begegnungsstätte mit zahlreichen Persönlichkeiten der Zeit: Jens Baggesen, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Klopstock, Matthias Claudius und Friedrich Heinrich Jacobi werden in Eutin von Johann Heinrich und Ernestine Voß empfangen. Der intellektuelle „Eutiner Kreis“, der sich zwischen 1776 und 1829 regelmäßig trifft, macht Eutin zum „Weimar des Nordens“. Dass Ernestines Gastfreundlichkeit und Neugier hieran ihren nicht geringen Anteil haben, ist mittlerweile unbestritten. Einer ihrer posthum veröffentlichten Aufsätze, 1800 in Eutin verfasst, zeigt, wie sie ihre Rolle beim Gelingen der Treffen einschätzt:
Ordnung und Reinlichkeit herrsche überall, doch nirgends so sehr, daß einer dadurch belästigt werde. Eine kleine Zahl Freunde soll sich hier oft bei Scherz und Ernst die Stunden verkürzen, und manch‘ schönes Lied soll am Klavier Ohr und Herz erfreuen. Man finde hier eine Anzahl auserlesener Bücher, die aber nicht bloß zum Schmuck der Wände ihren Platz haben. Von Wohlthätigkeit höre man hier nicht viel reden, aber es gehe mancher mit heiterem Gesichte weg, der mit traurigem kam. Der Hausvater sei rasch in seinen Geschäften, aber seine Stirn sei nie durch Falten verdüstert. […] Die Hausfrau sei heiter und thätig, und liebe den Putz nicht mehr als nöthig ist, um ihrem Manne zu gefallen. Sie verstehe die Kunst, angenehme und nützliche Thätigkeit miteinander zu verbinden. Unter beiden entstehe nie ein Zank, als darüber, ob er sie oder sie ihn mehr erfreue.
1802 geht Johann Heinrich Voß in den Ruhestand und zieht mit seiner Familie nach Jena, wo der älteste Sohn Heinrich bereits als Gymnasialprofessor arbeitet. Zu denen neuen Hausgästen im Hause Voß zählen auch Jean Paul und Johann Wolfgang Goethe, den Ernestine 1804 mit einem flammenden Gedicht („An Göthe“) persönlich einlädt:
Keine Schaffnerin, klug in künstlicher Speisebereitung
Schaltet allhier; ich selber, begafft von der alternden Köchin,
Fertige schnell ein Gericht und die festliche Schale des Punsches,
Roth von der Gluth, und bediene den Gast an der winzigen Tafel,
Froh des genügsamen Sinns, und des anmuthreichen Gespräches.
Also redete jen‘, und verschloß die Kammer des Vorraths.
Hör‘ itzt, Waimariade, denn nicht unbilliges rath‘ ich.
Selber zum häuslichen Gast erbitte dich. Dann mit Begeistrung
Üb‘ ich mein Amt, wie im schönen Eutin, und flöße dir Muth ein,
Oft dich der winzigen Tafel zu nahn, ein genügsamer Gastfreund.
1805 zieht das Ehepaar nach Heidelberg, wo Johann Heinrich Voß eine hochdotierte Professur annimmt. Es wird dies auch die letzte Etappe im Leben von Ernestine sein. 1826 stirbt ihr Mann in Heidelberg. Auf dem Familiengrabmal auf dem Bergfriedhof lässt die Witwe eingravieren:
Diesen Stein sezte Ernestine Voß
49 Jahr seine treue Lebensgefährtin
Hier wird auch ihr Staub ruhen
In den folgenden Jahren sichtet und publiziert Ernestine den literarischen Nachlass ihres Mannes #3; ihr ältester Sohn Abraham hilft ihr dabei. Ihre Erinnerungen an die Heidelberger Pädagogin Emilie Heins (1778-1831) erscheinen 1831 als Privatdruck.
Am 10. März 1834 folgt Ernestine ihrem Mann ins Grab. Drei Jahre später veröffentlicht ihr Enkel Hermann aus Anlass der Silberhochzeit seiner Eltern, Abraham und Maria Voß, eine Auswahl von Aufsätzen und Gedichten seiner Großmutter.
Einen Tag vor Ernestine Voß‘ 250. Geburtstag fällt das „Voß-Haus“ in Eutin, mittlerweile zum Hotel umgebaut, in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 2006 einem Brandanschlag zum Opfer. Erst 2019 wird es wieder neu errichtet.
21.5.2021 Jens Raschke
ANMERKUNGEN
1 Dagny Stemper: Das Leben der schleswig-holsteinischen Schriftstellerin Ernestine Voß (1756-1834): Eine Analyse zu Biographie und Werk auf der Grundlage ihres autographischen Nachlasses. Berlin u.a. 2006; Axel E. Walter: Ernestine Voß - Eine Dichterfrau und Schriftstellerin der Spätaufklärung. Eutin 2016
2 Vgl. https://www.ln-online.de/Lokales/Ostholstein/Voss-Briefe-Kampf-gegen-den-Tintenfrass
3 Ernestine Voß: „Aus dem Leben von Johann Heinrich Voß. Mitteilungen von Ernestine Voß“, in: August Sauer: Der Göttinger Dichterbund. Erster Teil: Johann Heinrich Voß. Berlin und Stuttgart, o. J.
Veranstaltungen
Keine Veranstaltungen vorhanden
WERKE
• Erinnerungen an Emilie Heins. Bonn: Carl Georgi 1831.
• Aufsätze. o.O.o.V. 1837.
• Aus dem Leben von J. H. Voss. Mitteilungen. Mit einem Vorwort von Ludwig Bäte. Göttingen: Turm-Verlag 1922.