Ralf Rothmann

Rothmann, Ralf.

Geboren in Schleswig am 10. Mai 1953

Er hat beinahe so viele literarische Auszeichnungen gesammelt, wie Romane und Erzählungen verfasst. Was seine Karriere als Autor angeht, ist die Biographie von Ralf Rothmann indes alles andere als geradlinig. In Schleswig geboren, lebt er hier bis zu seinem fünften Lebensjahr. Seine Kindheit verbringt er im Ruhrgebiet, genauer: in Oberhausen, wo sein Vater als Bergmann unter Tage arbeitet. Er besucht die Volksschule und beginnt schon mit 14 eine Maurerlehre. Es folgen Ausflüge in mehrere verschiedene Jobs - als Drucker, Krankenpfleger und Koch.

1976 zieht Rothmann nach Berlin und wird Schriftsteller. Die verschiedenen Erfahrungswelten, in die er bis dahin eingetaucht war, speisen seine Erzählwelt. Seine Sprache habe nur dann Schwerkraft, wenn er aus seinen Erfahrungen spreche, soll er irgendwann einmal gesagt haben. 1984 erscheint mit dem Gedichtband Kratzer sein literarisches Debüt, das von der Kritik einhellig gelobt wird. Hier wie auch in seinen späteren Romanen, die häufig im Arbeitermilieu des Ruhrpotts verortet sind, reflektiert er seine Jugend in den 60er und 70er Jahren. Als „Ruhrgebiets-Autor“, als den die Kritik ihn häufig bezeichnet, will er sich indes nicht verstanden wissen.

Die Liste von Rothmanns Romanveröffentlichungen ist lang, die Welt der kleinen Leute an der Ruhr das Thema seiner frühen Romane. 1993 erscheint sein Erstling Stier, gefolgt von Wäldernacht (1996) und Milch und Kohle (2000). Geschildert aus der Sicht eines Arbeitersohnes, dokumentiert letzterer das Scheitern der Erwachsenen, deren Träume von einer heilen Welt zerbrechen - an finanziellen Sorgen, Staublunge und Alkoholexzessen.

Berlin ist Schauplatz von Flieh mein Freund (1998) und Hitze (2003), beide spielen im Jugend-Milieu und beide wiederum in der Welt der Kleinen Leute. 2009 erscheint Feuer brennt nicht, ein Roman über das vorsichtige Zusammenwachsen von Ost und West - mit unübersehbar autobiographischen Zügen. Die Kritik feiert das Buch als großen Nachwende-Roman.

Am intensivsten mit Schleswig-Holstein auseinandergesetzt hat sich Rothmann in seiner jüngsten Romantrilogie: Im Frühling sterben (2015), Der Gott jenes Sommers (2018) und Die Nacht unterm Schnee (2022). In diesen Texten erzählt er, angelehnt an die eigene Familiengeschichte, von einem Teil der Landesgeschichte, der es recht selten in die Literatur schafft, nämlich der Spätphase des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Frühling sterben spielt überwiegend an der schon weit nach Westen verschobenen Ostfront, aber bevor die beiden jungen Protagonisten des Romans kurz vor Kriegsende dorthin geschickt werden, sehen wir ein vom Krieg und von ungebrochenem Fanatismus gleichermaßen zerrüttetes Schleswig-Holstein:

„Davon geht die Welt nicht unter“, schnarrte es aus dem Volksempfänger an der Wand. Daneben hing das Banner des Reichsnährstands, Schwert und Ähre. Zigaretten oder Schnapsgläser in den Händen, standen Soldaten ohne Mützen zwischen den Gästen, und unterhielten sich betont heiter und leutselig. Es waren höhere Dienstgrade der Waffen-SS in sauberem Feldgrau und gewichsten Stiefeln, und während Walter auf die Saaltür zuging, konnte er die Pomade im Haar eines Scharführers riechen. […] Ein Transparent mit der Aufschrift „Kampf bis zum Sieg! Lever dood as Slaav!“ hing über der Bühne […].

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 24f.

Bei diesem einen Einblick in ein finsteres Kapitel der Familiengeschichte, einer fiktionalisierten Darstellung der Kriegserlebnisse des Vaters, wollte es der Autor nach eigener Auskunft eigentlich belassen:

Nachdem ich „Im Frühling sterben“ geschrieben hatte, dachte ich nicht, dass ich noch einmal in diese Naziwelt abtauchen würde - die hat mich zu sehr deprimiert. Aber dann habe ich eine Lesereise gemacht, und in Kiel kam eine ältere Dame zu mir und sagte, sie habe meinen Vater kennengelernt, als jungen Mann noch. Da war sie ungefähr zwölf. Und wie sie dann von ihm erzählte, merkte ich, das kleine Mädchen damals war verliebt gewesen in den 17- oder 18-Jährigen. Und daran hat sich die Geschichte entsponnen.

Sebastian Hammelehle: "... dass sie uns Kindern das Taschengeld aus den Sparbüchsen klaute". Wie viel eigene Familiengeschichte steckt in den Büchern von Bestseller-Autor Ralf Rothmann? Der Spiegel, 2.5.2018.

Bei dieser Geschichte handelt es sich um den Roman Der Gott jenes Sommers, der nun fast vollständig im Norden und zwar auf einem Gut in Bovenau (bei Rendsburg) spielt. Hierhin hat sich die Familie der zwölfjährigen Hauptfigur Luisa aus Kiel zurückgezogen, das weitgehend zerstört ist:

Sogar der Südfriedhof hatte Treffer abbekommen. Aus den zerwühlten Gräbern sahen Bretter hervor, an denen Stofffetzen hingen; der Kapellenberg brannte. Auch aus dem Hauptbahnhof, dem Gerippe der Kuppel, wölkte schwefliger Qualm, und die Werften am Ostufer der Förde schienen ganz zerstört zu sein. Die einstmals gewaltigen, wie spreizbeinige Ungeheuer anmutenden Kräne waren eingeknickt oder umgestürzt, die Docks zerbombt, und Schiffe lagen kieloben im Wasser. Schwarz verklebte Vögel schwammen zwischen den lodernden Phosphorlachen herum, schlugen vergeblich mit den Flügeln.

Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers. Roman. Berlin: Suhrkamp 2018. S. 224.

Mindestens ebenso drastisch zerstört wie die Gebäude (die sich immerhin wieder aufbauen lassen) sind die Seelen der Romanfiguren: Rothmann schildert eine Welt aus Opportunismus, Fanatismus und Niedertracht, in der schockierende Gewalt zum Normalzustand geworden ist. Auch Luisa muss diese Gewalt erfahren, und es ist plausibel, wenn die noch so junge Protagonistin am Ende des Romans ausruft: „Ich habe alles erlebt“. #1 Der Roman wurde nach Erscheinen mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet.

Der 2022 erschienene Roman Die Nacht unterm Schnee ist der bisher am weitesten ausgreifende Teil der Erzählung, der nicht nur die Geschichte von Luisa und von Rothmanns fiktionalisierten Eltern bis in unsere Gegenwart fortführt, sondern auch Ereignisse wie den Untergang der Cap Arkona in den Blick nimmt. Es passt zum Erzählstil des Autors (und zum Konzept des Buchs), dass er den Massenmord an KZ-Häftlingen in der Lübecker Bucht erst direkt aus der Sicht eines Überlebenden beschreibt, um ihn dann in der scheinbaren Idylle der Wirtschaftswunderjahre noch einmal zu thematisieren, als derselbe Überlebende in Scharbeutz auf an ihren Tätowierungen erkennbare ehemalige Waffen-SS-Leute trifft:

An einem Tisch hockten drei Kartenspieler in Badehosen, und neugierig blieb Richard stehen. Sie blätterten schweigend ihre Trümpfe hin, stöhnten bei Verlusten, strichen die sandigen Siege ein und blinzelten argwöhnisch zu ihm hoch. Zwei von ihnen hatten eine Blutgruppen-Tätowierung am linken inneren Oberarm, man sah es, wenn sie ihre Karten austeilten, und er nickte ihnen freundlich zu. „Klapper-Jas“, sagte er. „Wie oft hab ich das mit meinen Kameraden gekloppt! Und wer gewinnt?“ Doch die Spieler antworteten nicht oder nur mit einem verlegenen Schulterzucken.

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee. Roman. Berlin: Suhrkamp 2022, S. 219.

Auch dieser Roman stieß im Feuilleton auf einhellige Begeisterung.

Zu Rothmanns weiteren – zahlreichen - literarischen Auszeichnungen neben dem bereits erwähnten Johnson-Preis für Der Gott jenes Sommers zählen unter anderem der Heinrich-Böll-Preis (2005), der Max-Frisch-Preis (2006) und der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2008). Ebenfalls 2008 wird ihm für sein Gesamtwerk der Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster zugesprochen. In der Begründung der Jury heißt es:

Aus Ralf Rothmanns Romanen und Erzählungen springt einen die Wirklichkeit an und lässt einen nicht mehr los. Ralf Rothmann erzählt nicht über Dinge, sondern es sind die Dinge selbst, die in uns eindringen bei der Lektüre. Er erhebt sich nicht über seine Figuren, er hält sich nicht für schlauer als sie und geht zugleich von einem Leser aus, der ebenso klug ist wie er selbst.

Bis heute hat der Wahl-Berliner eine enge Verbindung zu Norddeutschland. „Wann immer ich nach Schleswig-Holstein fahre, hebt sich mir das Herz“, sagte er kürzlich im Interview. Häufig komme er zum Arbeiten an die Grenze nach Dänemark, wo Freunde von ihm ein kleines Haus in der Nähe von Glücksburg besitzen. „Die Stille dort oben hat etwas Reinigendes“, so Rothmann. „Sie schafft die Voraussetzungen für meine Arbeit.“ #2

12.07.2021, ergänzt 16.11.2022
Sabine Tholund, Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Quelle: https://www.shz.de/21076177