Theodor Mommsen

Mommsen, Christian Matthias Theodor

Einer der bedeutendsten Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts und Nobelpreisträger für Literatur

Geboren in Garding am 30. November 1817
Gestorben in Berlin am 01. November 1903

Seit 2002 nennt sich Theodor Mommsens Geburtstadt Garding ganz offiziell Mommsen-Stadt. Aber, so schreibt sein Biograf Lothar Wickert: »Mehr als Garding für Mommsen bedeutete Mommsen für Garding.« #1 Die meisten Kindheitserinnerungen des am 30. November 1817 geborenen Nobelpreisträgers dürften sich an eine andere Gegend knüpfen. Denn schon im März 1821 zieht die Familie von Schleswig nach Holstein, genauer nach Oldesloe, wohin der Vater Jens Mommsen als Diakon berufen wird. Hier, im heutigen Kreis Stormarn, bewohnt die Familie ein geräumiges Haus am Stadtrand, dessen Front von Pappeln gesäumt ist und das über einen großen Obstgarten verfügt. Der erstgeborene Theodor und seine zwei und vier Jahre jüngeren Brüder Tycho und August durchstreifen das Östliche Hügelland.

So fördernd und bildungsreich das Mommsen’sche Elternhaus ist, so prekär ist die ökonomische Lage. Der als Sohn eines Marschbauern geborene Vater Jens muss nach Abschluss seines Theologie-Studiums in Kiel zehn Jahre warten, bis er in Garding eine Anstellung als Diakon findet. Erst im Alter von dreiunddreißig Jahren stehen ihm somit die Mittel für eine Familiengründung überhaupt zur Verfügung. Auch der Wechsel nach Oldesloe verbessert die Lage nur wenig. Zeitlebens verbleibt Mommsen senior in der Stellung des 2. Predigers, das heißt ohne das Salär und Renommee eines ordentlichen Pfarramtes. Wie knapp das Geld ist, macht eine von Theodor Mommsens Tochter Adelheid berichtete Szene anschaulich. Besucher des Deutschen Theaters beschweren sich, dass der schon über siebzigjährige Mommsen weite Teile des an dem betreffenden Abend gegebenen Faust II mitspricht. Zur Erklärung heißt es lapidar:

Mein Vater erzählte gelegentlich, daß er und seine Brüder – viel zu arm, um sich Bücher zu kaufen – Goethes Dichtungen abgeschrieben hätten, um sie zu besitzen.

Adelheid Mommsen: Mein Vater. Erinnerungen an Theodor Mommsen. München 1992, S. 31.

Die Anekdote zeigt auch: Der einzige Weg aus der Armut führt über Bildung. Theodor Mommsen erweist sich früh als gelehriger Schüler. Nach Jahren des Hausunterrichts wechseln er und sein Bruder im Oktober 1834 an das Königliche Christianeum in Altona, der Geburtsstadt der Mutter. Hier erhalten sie eine profunde Bildung, die sie auf den Besuch der Kieler Universität vorbereitet. Es wird in der Forschung oft betont, dass Theodor Mommsens umfangreiches Werk stark vom protestantischen Arbeitsethos des Elternhauses profitiert hat. Der Gymnasiast äußert sich kritisch über die ›Galeerensklavenarbeit‹ der Gelehrtenschule. Ausgleich findet er in der Poesie, und genauer: In der Zusammenarbeit mit seinem Kieler Kommilitonen Theodor Storm. Mommsen und Storm wohnen nicht nur zusammen in der Flämischen Straße in Kiel, sondern bringen 1843 einen gemeinsam mit Bruder Tycho verfassten Gedichtband auf den Markt, das Liederbuch dreier Freunde.

Sehr viele der hier abgedruckten Gedichte Mommsens handeln von der Dichtung selbst. Fortwährend ist vom Dichter und Dichten die Rede, von Seiten und Saiten, von Liedern und Reimen. Es scheint fast, als wolle der junge Lyriker Theodor Mommsen seine Werkzeuge prüfen. Dass sie leidlich gut funktionieren, zeigt das Gedicht Wie man’s anfängt:

Erst kommen Sonette,
Sie klingen gar so nett;
Denn wer’s versteht, ich wette!
Beginnt mit dem Sonett.
Die leicht beschwingten Lieder,
Sie finden offne Bahn;
Der Wall schützt nicht dawider,
Drinn siedeln sie sich an.

Den Kranz Apoll’n zu widmen,
Gelobt der Kommandant;
In hundert neuen Rhythmen
Kommt da Sukkurs zur Hand.
Sie klettern auf die Wälle,
Sind auch die Thore zu;
Es lassen Ritornelle
Selbst nicht die Nacht ihr Ruh.

Sie wachsen aus dem Boden,
Maiglöckchen gleich im Lenz;
Es braucht nicht erst der Oden
Devoter Reverenz;
Die Festung ist bezwungen,
Ein ziehen Lied und Reim,
Was man sich ausbedungen,
Vorläufig bleibt’s geheim.

Theodor Mommsen: Wie man's anfängt. In: Ders., Theodor Storm, Tycho Mommsen: Liederbuch dreier Freunde. Kiel 1843, S. 105.

Der Autor zählt hier eine ganze Reihe von Gedichttypen auf – Sonett, Lied, Ritornell, Ode – und spielt sie gegeneinander aus. Seine besondere Vorliebe gilt den »leicht beschwingten Liedern«, die auf die »Wälle« klettern und die »Festung« bezwingen. Tatsächlich kommt die Kraft und Energie der Jugend am Besten dort zum Ausdruck, wo das Tempo hoch ist: im streng durchgehaltenen dreihebigen Jambus und dem penibel erfüllte Kreuzreim. Bei aller formalen Brillanz ist der Schluss des Gedichts allerdings entlarvend. Denn was mit dem Erreichten anzufangen wäre, weiß der Text auch nicht recht: »Vorläufig bleibt’s geheim.«

Man könnte Mommsens Literaturverständnis akademisch nennen. Im Gegensatz zu Storm setzen seine Gedichte ein hohes Maß an Wissen voraus. Sie bewegen sich gleichsam auf der Landkarte der Literaturgeschichte. Überhaupt scheint die Literatur für Mommsen ein Bildungsgut darzustellen, das man wie das Griechische oder die Arithmetik zu beherrschen hat. Das Dichten wird so nicht zum genuinen Ausdrucksmittel, sondern zum Gegenstand von Dichtung und viele von Mommsens Texten strotzen nur so vor berühmten Namen. Nun ist es eine Eigentümlichkeit des Erfolgs, dass er rückwirkend manche Haltung rechtfertigt. Theodor Mommsen scheint schon in jungen Jahren über ein Selbstbewusstsein zu verfügen, das seine späteren Großprojekte überhaupt erst denkbar macht.

Versteht man die Dichtung als Teil eines humanistischen Bildungsideals, wie Mommsen es offenbar tut, werden gleichwohl Kontinuitäten sichtbar. Die herausragenden Leistungen des Wissenschaftlers und Politikers setzen beträchtliche intellektuelle wie organisatorische Fähigkeiten voraus. Mommsen, der sich selbst ein animal politicum nennt, denkt ganzheitlich. Die Poesie gibt den Gedanken eine Form. Und dass dieses Gespür für literarische Formen Mommsens gesamtes berufliches Leben grundiert, beweist die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 1902. Immerhin setzt Mommsen sich gegen so hochrangige Autoren wie Leo Tolstoi, Mark Twain, Emile Zola, William Butler Yeats, Hendrik Ibsen und August Strindberg durch. Carl David af Wirsén, der damalige Vorsitzende des Nobelkommitees, betont in seiner Laudatio insbesondere die ästhetische Qualität von Mommsens Hauptwerk:

Mommsen ist beides, ein Gelehrter und ein Künstler, und mit seinen 85 Jahren blieb er jung in seinen Werken [...]. Er besitzt die Inbrunst eines Jünglings, und selten empfand man auf so lebendige Weise wie in Mommsens Römischer Geschichte, daß Clio eine Muse ist.

Zitiert nach Heinrich Schlange-Schöningen: »Ein ›goldener Lorbeerkranz‹ für die ›Römische Geschichte‹ – Theodor Mommsens Nobelpreis für Literatur.« In: Josef Wiesenhöfer, Henning Börm (Hrsg.): Theodor Mommsen: Gelehrter, Politiker und Literat. Stuttgart 2005, S. 207-228, hier S. 219.

In gewisser Weise schließt der Nobelpreis zwei Lebenskreise. Die wissenschaftliche Karriere Mommsens wurde durch ein Stipendium des dänischen Königs ermöglicht und endet mit dem Preis der schwedischen Akademie. Das später verleugnete Liederbuch dreier Freunde lässt sich als früher Beleg der vom Nobelkomitee ausgezeichneten literarischenen Begabung lesen. Zwar erhält Mommsen den Nobelpreis für seine 1854-56 erschienene Römische Geschichte, die Beschäftigung mit der Antike datiert aber früher. Mithilfe des dänischen Reisestipendiums beginnt Mommsen bereits 1844, in Italien lateinischen Inschriften zu sammeln und zu inventarisieren. Dieses wissenschaftliche Großprojekt, die Erstellung eines Corpus Inscriptionum Latinarum, ist eines der ersten seiner Art und wird Mommsen sein Leben lang begleiten.

Die weitere wissenschaftliche Karriere umfasst Professuren in Leipzig (1848-51), Zürich (1852-54), Breslau (1854-58) und schließlich Berlin (ab 1858), wo Mommsen 1874 zum Rektor gewählt wird. Er ist außerdem Abgeordneter der Fortschrittspartei (1861-67) und der Nationalliberalen Partei (1873-79) im Preußischen Abgeordnetenhaus sowie Mitglied der sogenannten Sezession im Reichstag (1881-86). Politisch am stärksten positioniert sich Mommsen im sogenannten Antisemitismusstreit. Sein Aufsatz Auch ein Wort über unser Judentum (1880) bezieht Stellung gegenüber Nationalchauvinisten wie Heinrich von Treitschke und beweist, dass die Grenzen einer Nation für Mommsens überragenden Geist zu klein sind:

Das ist der eigentliche Sitz des Wahnes, der jetzt die Massen erfaßt hat und sein rechter Prophet ist Herr v. Treitschke. Was heißt das, wenn er von unsern israelitischen Mitbürgern fordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sind es ja, so gut wie er und ich. Er mag tugendhafter sein als sie; aber machen die Tugenden den Deutschen? [...] Unser Jahrhundert hat vielleicht kein größeres Dichtertalent gesehen als Heine; und wer kann dieses Spielen des Verstandes mit dem eigenen Herzblut, dieses im Wollüstigen und Phantastischen gewaltige, der Charaktertragik des Shakespeare schlechthin bare Gestaltungstalent anders begreifen, als wenn man sich seines Ursprungs erinnert?

14.6.2021Ole Petras

ANMERKUNGEN

1 Lothar Wickert: Theodor Mommsen. Eine Biographie. Bd. 1: Lehrjahre (1817-1844). Frankfurt am Main 1959, S. 80.