Fritz Bremer

Bremer, Fritz

Pionier der Kieler Literaturszene und sozio-kultureller Brückenbauer

Geboren in Lübbecke 1954

Obwohl kein Schleswig-Holsteiner von Geburt, ist Fritz Bremer aus der Literaturszene von Kiel und Umgebung nicht wegzudenken – als Autor, aber auch als Zeitschriftenherausgeber und Verleger. Bremer kam in den frühen 1970ern zum Studium nach Kiel, wo er in dieser Zeit kein sonderlich ausgeprägtes literarisches Leben vorfinden konnte: Die Literaturszene der Landeshauptstadt war klein und provinziell, und die einzigen Schauplätze für literarische Veranstaltungen waren zwei Buchhandlungen, Cordes und Wolf. Kurzerhand schufen Bremer und einige Mitstreiter (darunter Michael Augustin und Günter Ernst) Abhilfe, indem sie 1974 die Literarische Werkstatt Kiel gründeten. Die Gruppe gab die Literaturzeitschrift Bahnhofsgesang heraus, organisierte Veranstaltungen und verlegte auch Texte, darunter Bremers Erzählung Die Schritte des Herrn Kä (1976).  

In diesem kurzen, an Kafkas Verwandlung angelehnten Text zeigt sich bereits ein wichtiges literarisches Thema für Bremer, nämlich der Einbruch des Abgründigen, Unberechenbaren in eine scheinbar normale, geregelte Welt:

Gerade wollte die Mutter in der Wohnstube das Licht anmachen, um das Kreuzworträtsel zuendebringen zu können, als plötzlich sein Schrei gellend durch die Wohnung stieß. Seine Frau und seine Tochter zuckten erschrocken zusammen, und er riß die Toilettentür auf und ging dann mit schweren Schritten über den Flur ins Wohnzimmer. Sie starrten ihn an und warteten. […] Er richtete seinen Blick auf den stillstehenden Schaukelstuhl – wie gebannt – seine Augen wurden größer, starrer und bohrender mit einem ganz fremdartigen Leuchten voller Unruhe und matt wie zerschlagene Spiegel am Ende der lang erwarteten Tage.

F. W. Bremer:  Die Schritte des Herrn Kä. Eine Erzählung. Kiel: Literarische Werkstatt Kiel 1976, S. 2f.

Schon während seines Studiums arbeitete Bremer seit Mitte der 1970er Jahre in verschiedenen heilpädagogischen und psychiatrischen Einrichtungen. 1981 entstand in Neumünster im Rahmen von Reformbewegungen in der Psychiatrie der Verein „Die Brücke“, und seit 1985 gab Bremer zusammen mit Henning Poersel für den Verein die Zeitschrift Brückenschlag (zunächst als Brücken-Schlag geschrieben) heraus. Der Name ist überaus programmatisch: Die Zeitschrift versuchte von Anfang an, die Kluft zwischen Sozialpsychiater*Innen, Psychiatrie-Erfahrenen und der Kunstszene zu überwinden. Sie reagierte damit auf ein grundlegendes Problem:

In der jungen sozialpsychiatrischen Reformbewegung gab es ein Interesse an den Lebensgeschichten und Erfahrungen psychisch erkrankter Menschen. In den psychiatrischen Kliniken herrschte allerdings fast uneingeschränkt das Dogma: „Sprich mit den Kranken nicht über den Inhalt ihres Wahns. Denn es macht sie nur kränker.“ Die Erfahrungen, Erzählungen und Begabungen der „Insassen“ der „Landeskrankenhäuser“ waren nicht gefragt.

Fritz Bremer: Leben in Nischen – Begrüßung und Abschied. In: Brückenschlag 30 (2014), S. 8-12, hier S. 11f.

Literarisch und künstlerisch arbeitenden psychisch erkrankten Menschen boten die Seiten des Brückenschlags eine Bühne, und zwar in denkbar undogmatischer Weise: In den 30 Bänden, die bis zur Einstellung der Zeitschrift 2014 erschienen sind, finden sich sozialpsychiatrische Fachaufsätze ebenso wie Prosatexte, Gedichte und Fotografien. Zu den Auswahlkriterien und zur zugrundeliegenden Philosophie der Zeitschrift äußert Bremer in einem Interview:

Der Grund, auf den die Zeitschrift baut, ist Anerkennung und Interesse an der Erfahrung des anderen, ist Vertrauen in die Möglichkeit von Verstehen, von „kommunikativem Handeln“ und die Überzeugung, dass (nicht nur) Psychiatrie nur dann hilfreich werden kann, wenn sie den Erfahrungen der Menschen traut, um die es geht, sich an ihnen orientiert, und wenn sie kommunikativ wird.

Ilse Eichenbrenner: Interview mit Fritz Bremer. In: Soziale Psychiatrie, H. 3/2021, S. 61-63, hier S. 62.

Nicht immer war es einfach, auf diese Weise kommunikative Grenzen zu überwinden, und die absichtsvoll unhierarchische Ausrichtung der Zeitschrift stieß zuweilen auf Irritation:

Menschen aus dem Literaturbereich stellen die Frage: Was hat nun diese Zeitschrift mit Literatur und Kunst zu tun, und wo ist das Konzept? Menschen aus dem Psychiatrischen fragen: Wie soll uns das in der Psychiatrie helfen? Ist beides gesprächsweise immer wieder zu hören.

Fritz Bremer: Editorische Notizen. In: Brückenschlag 6 (1990), S. 10-13, hier S. 10.

Trotz dieser Schwierigkeit, die in der Praxis oft durch die Wahl von für beide Seiten anschlussfähigen Schwerpunktthemen angegangen wird, ist der Brückenschlag eine aufregende Lektüre. Die Liste der Beiträger*Innen ist nicht nur beeindruckend lang und breitgestreut, sondern belegt auch das literarische Gespür des Herausgebers: Feridun Zaimoglu ist hier beispielsweise lange vor seiner ersten Buchveröffentlichung mit Gedichten vertreten, und viele andere Autor*Innen des Literaturlands wie Gerrit Bekker, Wolfgang Sieg oder Ilse Behl tauchen ebenfalls auf. Ein besonders regelmäßiger Beiträger ist Wolfdietrich Schnurre, für den sich Fritz Bremer auch nach dessen Tod einsetzt: Im Paranus-Verlag, den Bremer 1990 als Teil der „Brücke“ gründet, erschien 2008 eine Sammlung mit ausgewählten Erzählungen des 1989 verstorbenen Autors.

Ebenfalls bei Paranus – der Verlagsname verweist auf die „härteste Nuss der Welt“, deren Festigkeit durch den abgeschwächten Laut am Ende aber „etwas gemildert“ werde #1 - erschien 2001 in zweiter Auflage ein wichtiger Text von Bremer: In allen Lüften hallt es wie Geschrei, ein literarische Biografie des expressionistischen Dichters Jakob van Hoddis. In der Gestalt des radikalen Schriftstellers, der die meiste Zeit seines Lebens in psychiatrischen Anstalten verbrachte und 1942 von den Nazis ermordet wurde, geht der Autor seinem Interesse an unangepassten Künstlerfiguren, deren bloße Existenz eine Herausforderung für die umgebende Gesellschaft darstellt, in literarisch überzeugender Form weiter nach. Seine „Fragmente einer Biographie“ sind eine geschickte Kombination aus dokumentarischem Material und künstlerisch gestalteten Elementen und beziehen sich in ganz eigenständiger Weise auf die literaturgeschichtliche Tradition, etwa auf Büchners Lenz

Im Frühling, wenn der Löwenzahn blühte, auch Ginster an den Hängen und Goldregen in den Hecken gelb leuchteten, ging Hoddis schon früh an den Feldern vorbei, zu den Wiesen, streifte umher, suchte im Gras, stand plötzlich still, lauschte, schaute zum Himmel, bückte sich rasch und fuhr mit der Hand über die Blüten. Gelegentlich pflückte er dann Blumen, die er behutsam zu einem prächtigen bunten Strauß bündelte.

Fritz Bremer: In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Jakob van Hoddis – Fragmente einer Biographie. Neumünster: Paranus 2001, S. 83.

Neben literarischen hat der Text auch literaturwissenschaftliche Meriten: Während Jakob van Hoddis heute ein halbwegs kanonischer Autor ist, war das 1996, als In allen Lüften… zuerst erschien, durchaus anders, und mit seiner akribisch recherchierten Biografie trug Bremer dazu bei, das Interesse für den halbvergessenen Expressionisten neu zu entfachen.  Dass das Buch trotz dieser geänderten Rahmenbedingungen auch heute noch relevant ist, belegt eine 2021 im Verlag PalmArt Press erschienene weitere Neuauflage.

Darüber hinaus ist Bremer als Lyriker unterwegs: 2018 erschien unter dem Titel eilt nicht mit dem Schauen eine Art Werkschau von Gedichten seit 1977, deren Schauplätze auch die biographischen Stationen des Autors widerspiegeln: Kiel-Gaarden, Schlesen (Kreis Plön) und seit vielen Jahren Groß-Vollstedt (zwischen Kiel, Neumünster und Rendsburg). Seine Lyrik kommt immer wieder auf einige Themen zurück: Neben dem bereits erwähnten Interesse an Außenseiterfiguren sind dies beispielsweise die Welt der Träume, Kinder und das Leben mit Behinderung. Über die Jahre lässt sich eine Tendenz zur Verknappung und Lakonie beobachten:

die festen Schuhe
anziehen
dann setzen
und
weiter im Text

Fritz Bremer: Wirklichkeit ist ein seltsames Wort. Gedichte. Selbstverlag 2016, S. 49.

Elitäre Weltentrücktheit ist dabei des Autors Sache nicht: Immer wieder hat er sich gesellschaftlich und politisch engagiert, etwa im VS Schleswig-Holstein, dem die Literarische Werkstatt 1983 beitrat. Im selben Jahr fand anlässlich des 50. Jahrestags der nationalsozialistischen Bücherverbrennung auf dem Kieler Rathausplatz eine Gedenkveranstaltung statt, bei der Bremer die Gedenkrede hielt.

Für Oktober 2022 ist im Verlag PalmArt Press unter dem Titel Das Ungewisse ist konkret eine neue Sammlung von Gedichten und Kurzprosa angekündigt. Und ab September gibt es Gelegenheit, den Autor in einer noch anderen Form kennenzulernen: Das Trio Wort und Ton, zu dem neben Bremer die Geigerin Ulrike Both und der Saxophonist Dietmar Bartussek gehören, veröffentlicht unter dem Titel gelockert ist schon der Gedanke eine CD, die Text und Musik zu einer Klangcollage verbindet.

15.8.2022 Jan Behrs