Wolfdietrich Schnurre

Schnurre, Wolfdietrich.

Dreimal zur Welt gekommen und Mitbegründer der Gruppe 47.

Geboren in Frankfurt/Main am 22. August 1920
Gestorben in Kiel am 09. Juni 1989

Wolfdietrich Schnurre verbrachte seine ersten Lebensjahre in Frankfurt. 1928 zog er mit seinem Vater nach Berlin; die Stadt „hat mich geformt und mein Wesen und meine Art zu schreiben und zu denken bestimmt“, wie er später zu Protokoll gab. #1 In der Tat ist Berlin nicht nur in seinen Werken überaus präsent: „Wenige Schriftsteller erweisen sich derart mit ihrem Heimatort identisch wie dieser hochgewachsene, überschlanke Mann mit dem Schnurrbärtchen“, erinnert sich Günter Kunert#2. Das erklärt vielleicht, warum Schnurre kaum als Schleswig-Holsteiner Schriftsteller wahrgenommen wird, obwohl er seit 1981 in Felde bei Kiel lebte. Die Schleswig-Holsteiner Zeit fällt zudem in eine Epoche, in der es relativ ruhig um den Schriftsteller geworden war – der Erfolg seines essayistischen Bands Der Schattenfotograf (1978) lag bereits einige Jahre zurück, und nachdem die Aufnahme des Romans Ein Unglücksfall (1981) hinter den Erwartungen zurückblieb, verlangsamte Schnurre sein vorher beachtliches Veröffentlichungstempo ein wenig. Den Kulturpreis der Stadt Kiel, der ihm 1989 verliehen wurde, konnte er nicht mehr entgegennehmen.

Schnurre, der laut eigener Auskunft durch seine Erfahrungen als Soldat im Weltkrieg als Schriftsteller radikalisiert wurde, betrat die Bühne des Literaturbetriebs erstmals 1947, als er bei der ersten Lesung der „Gruppe 47“ seine Erzählung Das Begräbnis vortrug. Dieser Text (den Schnurre 30 Jahre später auch in einer Fassung im Berliner Dialekt veröffentlichte) #3 enthält bereits etliche Elemente, die für sein Gesamtwerk wichtig sind. Die Sprache ist schmucklos und direkt, und das Thema, in diesem Fall die Beerdigung Gottes nach Vernachlässigung durch die Menschen, wird in einem desillusionierten und lakonischen, aber gleichzeitig humorvollen Tonfall aufbereitet:

„Frau!“, ruf ich, „n Mantel!“
„Wieso n?“, brummelt sie oben. „Frag nicht so blöd“, sag ich; „muss zur Beerdigung.“
„Kenn ich“, greint sie; „Skat kloppen willste.“
„Quatsch“, sag ich; „Gott ist gestorben.“
„Na und - ?“, sagt sie; „vielleicht noch n Kranz kaufen, hm?“

Wolfdietrich Schnurre: Das Begräbnis. In: Dreimal zur Welt gekommen. Ausgewählte Erzählungen. Hrsg. von Marina Schnurre und Fritz Bremer. Neumünster: Paranus 2008, S. 122.

Wie Schnurre in zahlreichen Wortmeldungen deutlich gemacht hat, ist sein poetisches Programm auch als Kritik an restaurativen und eskapistischen Tendenzen in der Literatur der frühen Bundesrepublik zu verstehen. Anstatt Beschauliches oder vermeintlich Überzeitliches anzubieten, orientiert er sich am Ideal eines unbequemen, engagierten Schriftstellers:

Engagiert, was heißt das. Das heißt im besten Falle: beteiligt, Anteil nehmend, betroffen. Betroffen wovon. Von allem, was gegen die Menschenwürde verstößt. Von der Geringschätzung der Persönlichkeit. Von der Verfolgung der Unschuld. Von der Macht des Terrors. Vom Sog der Gewöhnung. […] Engagiert, das heißt aber auch, sich verpflichtet fühlen; das heißt auch: bereit sein, Zeugnis zu geben; nicht schweigen können, wenn das Unrecht, wenn die Unwahrhaftigkeit hoffähig werden.

Wolfdietrich Schnurre: Der Schriftsteller und die Mauer. In: Schreibtisch unter freiem Himmel. Polemik und Bekenntnis. Olten, Freiburg im Breisgau: Walter 1964,S. 64.

Seinen Stil und sein Programm hat Schnurre in den folgenden Jahrzehnten in zahlreichen Kurzgeschichtensammlungen weiterentwickelt. Bis heute ist er für diese Texte bekannt, die als wesentlicher Bestandteil der sogenannten „Trümmerliteratur“ direkt nach Kriegsende gelten. Dies sollte jedoch nicht dazu verleiten, neben den Kurzgeschichten die vielen anderen Aspekte seines Werks zu vernachlässigen: Schnurre war Lyriker #4 und, oftmals im Team mit seiner Frau Marina, Autor von Kinderbüchern #5; er brachte 1970 eine selbst illustrierte Sammlung humoristischer Texte heraus #6 und arbeitete fürs Radio und Fernsehen. Nicht zuletzt ist die bereits erwähnte Sammlung von Aufzeichnungen Der Schattenfotograf zu nennen, die Tagebucheinträge, Prosaskizzen und Aphorismen in sorgsam durchkomponierter Form vereinigt und auch beim Publikum erfolgreich war. Hier finden sich erneut selbstreflexive Passagen von großer Eindringlichkeit, die den Anspruch des Schnurreschen Programms deutlich machen:

Hinter jedem mühsam formulierten, klar geschriebenen Satz wartet ein noch wesentlich klarerer, sehr viel mühsamer zu findender auf seine Entdeckung. Eine Binsenwahrheit, deren tägliche Bewußtwerdung einen als Schreiber verrückt machen kann.

Wolfdietrich Schnurre: Der Schattenfotograf. Aufzeichnungen. München, Leipzig: List 1994 (erstmals 1978), S. 64.

Der Gattung des Romans hat sich Schnurre nur zurückhaltend genähert. Sein vielleicht bekanntestes Werk Als Vaters Bart noch rot war weist sich zwar im Untertitel als „Roman in Geschichten“ aus, aber die Verbindung zwischen den einzelnen autobiografisch gefärbten Kindheitsgeschichten bleibt locker, sodass es den Leser*Innen freigestellt ist, das Buch auch als eine weitere Sammlung von Kurzgeschichten zu lesen. Erst 1981 legt der Autor einen weiteren, mehr in sich geschlossenen Roman vor, #7 der aber kein großer Erfolg wird. Generell wurde Schnurre die meiste Zeit seines Lebens trotz seiner enormen Produktivität als Schriftsteller unterschätzt. Im Schattenfotografen äußert er sich dazu selbstironisch:

In einer Statistik entdeckt, daß ich zwischen 1945 und 1972 von allen deutschen Autoren die meisten Bücher veröffentlicht habe. Verdutzt und bekümmert. […] Diesen zweifelhaften Rekord kann nun keiner mehr überbieten; das hängt einem an. Dazu: Kürzlich gelesen, daß ich der verkannteste zeitgenössische deutsche Schriftsteller sei. Daran ist etwas Wahres; schließlich rechtschaffen daran gearbeitet, es auch zeit meines Lebens zu bleiben.

Wolfdietrich Schnurre: Der Schattenfotograf. Aufzeichnungen. München, Leipzig: List 1994 (erstmals 1978), S. 183f.

Zu der hier angedeuteten „rechtschaffenen Arbeit“ an der eigenen Verkanntheit gehört vielleicht auch der Rückzug in ein abgelegenes Haus auf der Halbinsel Resenis in Felde, von wo aus der jahrzehntelang kränkliche Schnurre die literarische Öffentlichkeit eher mied. Nach Erinnerungen von Weggefährten war es ihm darüber hinaus völlig fremd, das Rampenlicht zu suchen: „ein völlig uneitler unprätentiöser Autor mit keinerlei Neigung, sich selbst auf einem Sockel zu sehen“. #8 In diesem Fall muss also das Werk für sich selbst sprechen. Dass es das auch heute noch kann, ist der Witwe Marina Schnurre sowie dem Berlin Verlag und dem Paranus Verlag in Neumünster zu verdanken, die in jüngerer Zeit Neuauflagen von Schnurres wichtigsten Texten herausgebracht haben. #9

2.2.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Wolfdietrich Schnurre: Brief an eine Schülerin. In: Schreibtisch unter freiem Himmel. Polemik und Bekenntnis. Olten, Freiburg im Breisgau: Walter 1964, S. 253.

2 Günter Kunert: Über Schnurre. In: Wolfdietrich Schnurre: Dreimal zur Welt gekommen. Ausgewählte Erzählungen. Hrsg. von Marina Schnurre und Fritz Bremer. Neumünster: Paranus 2008, S. 8.

3 Wolfdietrich Schnurre: t Bejräbnis. In: Auf Tauchstation. Frankfurt am Main: Ullstein 1973, S. 28–37.

4 Wolfdietrich Schnurre: Kassiber und neue Gedichte. Frankfurt am Main u.a.: Ullstein 1982.

5 Z.B. Marina und Wolfdietrich Schnurre: Die Sache mit den Meerschweinchen. Alle Geschichten von Heini & Tine. Weinheim: Beltz & Gelberg 1998; Marina und Wolfdietrich Schnurre: Wie der Koala-Bär wieder lachen lernte. Zürich, Freiburg: Atlantis 1971.

6 Wolfdietrich Schnurre: Schnurre heiter. Olten, Freiburg: Walter 1970.

7 Wolfdietrich Schnurre: Ein Unglücksfall. Roman. München: List 1981.

8 Manfred Durzak: Wolfdietrich Schnurre – Momentaufnahmen eines großen Erzählers. In: Ilse-Rose Warg (Hrsg.): Er bleibt dabei. Schnurre zum 75. Paderborn: Igel 1995, S. 45.

9 Dreimal zur Welt gekommen. Ausgewählte Erzählungen. Hrsg. von Marina Schnurre und Fritz Bremer. Neumünster: Paranus 2008. Es ist wie mit dem Glück. Erzählungen. Berlin: Berliner Taschenbuch-Verlag 2010. Der Schattenfotograf. Berlin: Berlin-Verlag 2010. Als Vaters Bart noch rot war. Berlin: Berliner Taschenbuch-Verlag 2014.