“O my God! what sublime scenery I have beheld” – Coleridge in Ratzeburg
Samuel Taylor Coleridge, der englische Romantiker, der heute am 21. Oktober 2022 seinen 250. Geburtstag feiert, war ein großer Reisender, der auch in seiner Literatur eine gewisse Weltläufigkeit zeigt – schon seine beiden bekanntesten Gedichte, die Seefahrerballade Rime of the Ancient Mariner und Kubla Khan mit seiner Beschwörung der mystischen mongolischen Hauptstadt Xanadu, legen das nahe. Dass der Dichter bei seinen Reisen auch ins damalige Herzogtum Lauenburg gelangte und in Ratzeburg einige Monate lang Deutsch lernte, spielt in der Coleridge-Forschung keine große Rolle, ist aber für das Literaturland eine schöne Gelegenheit, anlässlich seines Ehrentags auf die Internationalität der schleswig-holsteinischen Literaturlandschaft hinzuweisen.
Der 1772 geborene Coleridge hatte in den Jahren, bevor er nach Deutschland kam, ein betont unbürgerliches Leben geführt und war 1794 an der Gründung einer Kommune beteiligt, deren geplante Auswanderung in die USA sich jedoch zerschlagen hatte. 1795 lernte er William Wordsworth kennen, der seine radikalen politischen Ansichten teilte und mit dem er gemeinsam den Gedichtband Lyrical Ballads (1798) veröffentlichte, in dem unter anderem der Ancient Mariner enthalten war. Der Grund dafür, dieses aus heutiger Sicht wohl wichtigste Buch der englischen Romantik zu veröffentlichen, waren die Reisepläne Coleridges und Wordsworths, die man mit dem Einnahmen aus dem Buch finanziell absichern wollte - eigentlich sollte die Deutschlandreise bereits 1797 stattfinden. Bereits vorher hatte Coleridge begonnen, Deutsch zu lernen, und einige Werke der deutschen Literatur, darunter Johann Heinrich Vossens Luise, waren ihm bekannt. Am 16. August 1798 begannen Wordsworth, seine Schwester Dorothy und Coleridge ihre Schiffsreise von Yarmouth über Cuxhaven nach Hamburg, das sie zwei Tage später erreichten. Die Stadt sagt den Reisenden nicht besonders zu – „an ugly City that stinks in every corner, house & room“, schrieb Coleridge an seine Frau Sara #1 –, wenngleich sich der Dichter gleichzeitig über die Ehrerbietung amüsiert, die ihm aufgrund seiner Nationalität zuteilwird: „to be an Englishman is in Germany to be an Angel – they almost worship you.“ #2 Das ändert jedoch nichts daran, dass er und die Wordsworths Hamburg so schnell wie möglich verlassen wollen, zumal ihnen die hohen Preise die Reisekasse leeren: „the Cheapness of Germany is a Hum! – at least of the Northern Parts.“ #3 Aus diesem Grund beschließen William und Dorothy Wordsworth, weiter in Richtung Süden zu ziehen, wo sie niedrigere Lebenserhaltungskosten erwarten, während Coleridge in Norddeutschland (aber nicht in Hamburg) bleiben will. Vorher ist jedoch in der Hansestadt noch eine literarische Ehrenbezeugung zu absolvieren: Der größte Hamburger Schriftsteller dieser Zeit, Friedrich Gottlieb Klopstock, ist auch in England legendär, und Wordsworth und Coleridge machen ihm ihre Aufwartung. Der Besuch verläuft jedoch nur wenig erfreulich, denn die Engländer, die vorher Klopstocks Bruder kennengelernt und bei ihm eine Büste des großen Dichters gesehen haben, erhalten vom tatsächlichen Klopstock einen eher negativen Eindruck:
I was much disappointed in his countenance. I saw no Likeness to the Bust. – There was no comprehension in the Forehead – no weight over the eyebrows – no expression of peculiarity, either moral or intellectual, in the eyes; – there was no massiveness in the general Countenance. – He is not quite so tall as I am – his upper jaw is toothless, his under jaw all black Teeth.
[Ich war von seiner Erscheinung sehr enttäuscht. Ich sah keine Ähnlichkeit zu der Büste. Seine Stirn zeigte kein Verständnis, über seinen Augenbrauen war keine Gewichtigkeit, in seinen Augen kein Ausdruck von moralischer oder intellektueller Besonderheit – seine allgemeine Erscheinung hatte nichts Massives. Er ist etwas kleiner als ich – sein Oberkiefer ist zahnlos, die Zähne des Unterkiefers sind ganz schwarz.]
Dazu kommt die Perücke des greisen Dichters, die die Besucher als altmodisch und unappetitlich empfinden, und auch die Konversation gestaltet sich mühselig: Coleridge und Wordsworth sprechen noch nicht genug Deutsch, um sich mit Klopstock in dessen Muttersprache zu unterhalten, während dieser nur rudimentär Englisch kann. Wordsworth und er unterhalten sich daher auf Französisch, was dann für Coleridge übersetzt werden muss. Man versteht sich aber immerhin so gut, um festzustellen, dass man in entscheidenden Fragen weit auseinanderliegt – Klopstocks Meinungen zur englischen und deutschen Literatur sowie zum deutschen Versmaß überzeugen Coleridge kaum: „He did not understand me well – & I was glad of it. – It appeared to me great nonsense – & since I have read so many of the German poets, I find that it really was nonsense.“ #4 Das Gipfeltreffen dreier Großschriftsteller ist also inhaltlich kaum bemerkenswert, aber Coleridge ist auch insofern Romantiker, als dass er Klopstock trotzdem mit großer Rührung verlässt:
I looked at him with much emotion – I considered him as the venerable Father of German Poetry; as a good man; as a Christian; with legs enormously swelled; seventy four years old; yet active and lively in his motions, as a boy; active, lively, chearful and kind and communicative – and the Tears swelled into my eyes; and could I have made myself invisible and inaudible, I should have wept outright.
[Ich sah ihn mit großer Bewegung an – ich betrachtete ihn als den ehrwürdigen Vater der deutschen Dichtung, als einen guten Mann, als einen Christen, mit extrem angeschwollenen Beinen, 74 Jahre alt, aber dennoch rührig und lebhaft in seinen Bewegungen wie ein kleiner Junge. Rührig, lebhaft, fröhlich, freundlich und umgänglich – und die Tränen schossen in meine Augen; wenn ich mich unsichtbar und unhörbar hätte machen können, hätte ich laut geweint.]
Danach trennen sich die Wege der englischen Reisenden, und Coleridge bricht nach Ratzeburg auf, wo er zunächst bei einem von Klopstocks Bruder vermittelten Amtmann unterkommen will. Hier zeigen sich jedoch erneut die Schwierigkeiten der internationalen Kommunikation: Der Brite liest Deutsch (bzw. die deutsche Kurrentschrift) noch schlechter, als er es spricht, und kann deswegen den nur schriftlich mitgeteilten Namen seines Gastgebers nicht entziffern. Dies führt zu Komplikationen:
Here a ludicrous circumstance occurred – I had never asked Klopstock the Name of the Gentleman, but only took the letter – Accordingly when I arrived at Ratzeburgh, I consulted the direction – but lo! it was in German Characters – which, (the written) I cannot even now read. However there was one word which I made out, & which from it’s situation I took for the name – this was Wohlgeborne.– So I began to enquire where Mr. Wohlgeborne lived – no body knew such a Person – I was a little frightened and shewed my letter – A Grin! – The address was to the Amtman Braunes […] and Wohlgeborne or ‘Well born’ is one of the common titles of Civility, & means no more than our Esqr – Well I delivered my letter to the Amtman, who spoke English very well & received me very kindly.
[Hier passierte etwas Lächerliches: Ich hatte Klopstock nie nach dem Namen des Herrn gefragt, sondern nur den Brief mitgenommen. Als ich dann in Ratzeburg ankam, sah ich auf die Anweisungen, aber sie waren in deutscher Schrift, die ich (als Handschrift) immer noch nicht lesen kann. Immerhin konnte ich ein Wort entziffern, das ich wegen seiner Position für den Namen hielt – es war „Wohlgeborne“. Deswegen fragte ich herum, wo Herr Wohlgeborne lebte, aber niemand kannte so eine Person. Ich war ein wenig besorgt und zeigte meinen Brief – ein Grinsen! Der Brief war an Amtmann Braunes gerichtet, und „Wohlgeboren“ ist ein üblicher Titel und bedeutet nicht mehr als unser „Esquire“. Nun, ich lieferte meinen Brief beim Amtmann ab, und der sprach gut Englisch und empfing mich sehr freundlich.]
Der Amtmann vermittelt Coleridge eine bezahlte Unterkunft beim örtlichen Pastor. Der Dichter macht sich sogleich an die Arbeit und lernt nicht nur Deutsch, sondern beschäftigt sich, wie seine Briefe an die Wordsworths zeigen, mit deutschen, englischen und lateinischen Hexametern, bei deren Erprobung er auch seine Einsamkeit in der deutschen Provinz zum Ausdruck bringen kann:
William, my head and my heart! Dear William and dear Dorothea!
You have all in each other; but I am lonely, and want you!
Immerhin findet er trotzdem Gelegenheit, sich den ortstypischen Wintervergnügungen hinzugeben (und dabei dem als rasanten Schlittschuhläufer bekannten Klopstock nachzueifern): „We have a deep snow and a hard frost, and I am learning to skate.“ #5 Und auch von Ratzeburg ist er mehr als angetan: Wenngleich er sich zunächst über das eintönige Rot der die Kernstadt prägenden Backsteinbauten beschwert, ist er von der winterlichen Kulisse der vom Wasser umgebenen Stadt höchst beeindruckt – wer den Ancient Mariner kennt und weiß, welche Bedeutung der Nebel für dieses Gedicht hat, wird an Coleridges Beschreibung des Ratzeburger Küchensees seine Freude haben:
But when first the Ice fell on the Lake, & the whole Lake was frozen, one huge piece of thick transparent Glass, O my God! what sublime scenery I have beheld. - Of a morning I have seen the little [lake] covered with Mist; when the Sun peeped over the Hill, the Mist broke in the middle; and at last stood as the waters of the red Sea are said to have done when the Israelites passed-& between these two walls of Mist the sunlight burnt upon the Ice in a strait road of golden Fire, all across the lake - intolerably bright, & the walls of Mist partaking of the light in a multitude of colours.
[Aber als zum ersten Mal Eis auf dem See erschien und der ganze See gefroren war, ein riesiges Stück dickes, durchsichtiges Glas - oh mein Gott, welch erhabenes Schauspiel habe ich gesehen. Eines Morgens sah ich den kleinen See ganz mit Nebel bedeckt; als die Sonne sich über den Hügel erhob, brach der Nebel in der Mitte auf und stand schließlich da, wie die Wasser des Roten Meeres es getan haben sollen, als die Israeliten sie durchschritten. Und zwischen diesen beiden Nebelwänden brannte die Sonne wie eine gerade Straße aus goldenem Feuer auf das Eis, über den ganzen See - unerträglich hell, während die Nebelwände das Licht in einer Mannigfaltigkeit von Farben aufnahmen.]
Und auch sonst vernachlässigt Coleridge seine Umgebung nicht – auch „Lubec“ wird besucht und beeindruckt ihn als „old fantastic Town“. #6 Dennoch beendet er seinen Aufenthalt im Norden recht bald nach Neujahr. Als Grund dafür nennt er zum einen die Tatsache, dass er sein Ziel, Deutsch zu lernen, bereits erreicht habe: „I now read German as English – that is, without any mental translation“, #7 wenngleich die mündliche Konversation weiter schwerfällt. Mehr ins Gewicht fallen jedoch finanzielle Aspekte, denn das Leben in Ratzeburg ist zu teuer: „I have enjoyed great advantages in this place; but I have payed dear for them.“ #8 Die Universitätsstadt Göttingen soll in beiden Aspekten Abhilfe schaffen: Coleridge erhofft sich dort ein wesentlich billigeres Leben und eine weitere Verbesserung seiner Deutschkenntnisse. Am 6. Februar 1799 bricht er deswegen Richtung Süden auf, wobei die extreme Kälte in der zugigen Kutsche ihn davon abhält, auf der Reise bemerkenswerte Beobachtungen zu Land und Leuten anzustellen. Immerhin kann er sein Empfinden bereits passabel zweisprachig zum Ausdruck bringen:
[T]he only remarks, which suggested themselves to me, were – that it was cold – very cold – shocking Cold – ‚never felt so cold in my life‘ – Meine Seele! es ist kalt! – abscheulich kalt! widernatürlich kalt! ganz erstaunend kalt, &c & & & c.
Insgesamt währt der Aufenthalt des englischen Romantikers im heutigen Schleswig-Holstein so nur kurz. Trotzdem blieb er nicht folgenlos für die Literaturgeschichte: Coleridge lernte so gut Deutsch, dass er Schillers Wallenstein ins Englische übersetzen und insgesamt ein großer Vermittler deutscher Philosophie und Literatur werden konnte. Und auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hat der Besuch Spuren hinterlassen: 2020 veröffentlichte Marcel Beyer das Gedicht Am See, das mit der für diesen Autor typischen Stilsicherheit und Quellenkenntnis Coleridges Ratzeburger Monate zu einer Reflexion über Sprache und Literaturgeschichte verdichtet:
Drei Monate kein Alkohol und
kein Laudanumrausch, schreibt
Samuel Taylor Coleridge
an seine Frau – er weiß es nurzu gut, er weiß genau, unter dem
steten Druck der deutschen
Sprache verwandelt sich noch
jedes Ratzeburg in Xanadu.Ein Ratzeburg-, ein Runkelrüben-
deutsch in höchster Reinheit.
[...]
21.10.2022 Jan Behrs
ANMERKUNGEN
1 Brief von Samuel Taylor Coleridge an Sara Coleridge, 18. September 1798. In: Collected Letters of Samuel Taylor Coleridge. Edited by Earl Leslie Griggs. Bd. 1: 1785-1800. Oxford: Oxford University Press 1966, S. 417.
2 Brief von Samuel Taylor Coleridge an Thomas Poole, 26. Oktober 1798. Ebd., S. 435.
3 Brief von Samuel Taylor Coleridge an Thomas Poole, 28. September 1798. Ebd., S. 419.
4 Brief von Samuel Taylor Coleridge an Thomas Poole, 20. November 1798. Ebd., S. 443.
5 Brief von Samuel Taylor Coleridge an Sara Coleridge, 26. November 1798. Ebd., S. 449.
6 Brief von Samuel Taylor Coleridge an Sara Coleridge, 14. Januar 1799. Ebd., S. 461.
7 Brief von Samuel Taylor Coleridge an Thomas Poole, 4. Januar 1799. Ebd., S. 453.
8 Ebd., S. 454.