Kaisborstel
Wissenswertes
Das winzige Dorf Kaisborstel im Norden des Kreises Steinburg dürfte auf absehbare Zeit der kleinste Ort mit eigenem Eintrag im „Literaturland SH“ sein – der derzeit zweitkleinste Ort, Tielenhemme, ist mit 150 Einwohner*Innen immerhin doppelt so groß. Da Kaisborstel seinen literarischen Ruhm ausschließlich dem Lyriker Günter Kunert verdankt, kommt hier statistisch gesehen ein großer Dichter auf etwa 75 Bewohner*Innen – ein Wert, von dem Städte wie Kiel oder Lübeck nur träumen können. Die Kaisborstelerinnen und Kaisborsteler verteilen sich über eine große Fläche – „[e]s gibt eine Dorfstraße, aber einen richtigen Ortskern wird man vergeblich suchen“, wie selbst die offizielle Website der Gemeinde einräumt. #1 Die Schlussfolgerung ist klar: „Wer einmal Kaisborstel besucht hat, weiß, dass dort Individualisten leben.“ #2 Eine gewisse Widerspenstigkeit zeigt sich selbst im Wappen der Gemeinde – die beiden weißen Balken, die man dort sieht, sollen kritisch auf die beiden überregionalen Straßen (die BAB 23 und die L 127) verweisen, die das Gemeindegebiet durchschneiden. Der zwischen ihnen gelegene Ochsenkopf hingegen erinnert an den historischen Ochsenweg, dessen Westroute einst hier verlief.
Literarisches
Günter Kunert ließ sich 1979 im ehemaligen Schulhaus von Kaisborstel im Goldbergweg 1a nieder – ein „unscheinbares wilhelminisches Häuschen […], einstöckig, Krüppelwalm, die Traufseite zur Fahrstraße.“ #3 Nach seinen schlechten Erfahrungen mit dem Unterdrückungsapparat der DDR fühlte sich Kunert hier „maßvoll geborgen“ #4 – für einen als hartnäckigen Skeptiker bekannten Autor sicherlich ein hohes Lob. Nicht nur findet Kunert hier Ruhe – er ist auch in der Lage, den langsameren Rhythmus auf dem Land für sein Schreiben produktiv zu machen:
In Schleswig-Holstein gehen die Uhren langsamer. Es gibt keine Hektik, keine Hast. Und schon nach kurzer Zeit habe ich mich diesem ganz langsamen Rhythmus hier angepasst. Also wenn mir jemand gesagt hätte, vor vierzig Jahren, du wirst mal in Schleswig-Holstein auf dem Lande leben, den hätte ich für irrsinnig gehalten. Und ich finde jetzt, dass es das Beste war, was ich hatte machen können für mich und für mein Schreiben.
Auch Erich Maletzke, der Kunert mehrfach in Kaisborstel besucht hat, zeichnet in seinem Buch Poeten in ländlicher Idylle das Bild eines harmonischen Einverständnisses zwischen Dichter und Landschaft – immerhin scheint Kunert das Leben im Schulhaus ja auch so sehr gefallen zu haben, dass er Sarah Kirsch eine ähnliche Immobilie im 40 km weiter nördlich gelegenen Tielenhemme vermittelte. Ein Geheimnis will der Dichter seinem Besucher Maletzke gegenüber aber nicht lüften: Das Arbeitszimmer, in dem Kunert seine zahlreichen Bücher produziert, bleibt tabu, und dem „Wunsch, wenigstens einen schnellen Blick ins Allerheiligste werfen zu dürfen“, #5 wird nicht entsprochen:
Auch der provozierende Verdacht, daß im Arbeitszimmer vielleicht ein Zwerg sitzt und unter dem Pseudonym Günter Kunert schreibt, öffnet das Herz des alten Schulhauses nicht.
Immer wieder hat Kunert seine schleswig-holsteinische Umgebung auch im Werk selbst thematisiert, etwa im Gedicht In fremder Heimat, in dem neben den Besonderheiten der Landschaft auch der individualistische Eigensinn der Kaisborsteler Bevölkerung durchscheint:
Für heilig hält hier jedermann
sein Haus, sonst nichts. Hin
zu den Meeren westwärts oder ostwärts
wenig Völkerschaften, nur
ein paar stumme Dörfer. Dazwischen
Bodenwellen schafsgesprenkelt
grau zugedeckt so wolkenweit.
In der Umgebung
Sowohl durch die Autobahn als auch durch die Landesstraße ist Kaisborstel mit der Kreisstadt Itzehoe verbunden, die auch mit einigen Kunert-Bezügen aufwarten kann: Sie ist Schauplatz seiner Science-Fiction-Erzählung Itzehoe anno 2037, wo der Klimawandel die Stadt zu überfluten droht, und im realen Itzehoe wird seit 2021 alle zwei Jahre der Günter Kunert Literaturpreis für Lyrik verliehen. In Richtung Norden gelangt man in einer guten Viertelstunde mit dem Auto nach Hanerau-Hademarschen, dem Alterswohnsitz Theodor Storms. Und in unmittelbarer Nähe von Kaisborstel befindet sich ein aus anderen Gründen interessanter Ort: Im nur 4 km entfernten Wacken findet seit vielen Jahren mit dem „Wacken Open Air“ eines der größten Heavy-Metal-Musikfestivals der Welt statt. Arno Surminski hat hier ein Ferienhaus.
3.1.2022 Jan Behrs
ANMERKUNGEN
1 https://www.amt-schenefeld.de/verzeichnis/objekt.php?mandat=130423
2 Ebd.
3 Dietmar Albrecht: Literaturreisen Schleswig-Holstein. Stuttgart/Dresden: Klett 1993, S. 48.
4 big: „Kassandra von Kaisborstel“ – Trauer um den Dichter Günter Kunert. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 22. September 2019. Online unter https://www.rnd.de/kultur/kassandra-von-kaisborstel-trauer-um-den-dichter-gunter-kunert-RT55WEBVPZCXFOLFCYIXO3OHZU.html.
5 Erich Maletzke: Poeten in ländlicher Idylle. Mit Fotos von Astrid Boelter. Hamburg: Lühr & Dircks 1996, S. 92f.
Veranstaltungen
Keine Veranstaltungen vorhanden
AUTOR*INNEN
INFORMATIONEN
Homepage:
https://www.amt-schenefeld.de/verzeichnis/objekt.php?mandat=130423