Nis-Momme Stockmann

Stockmann, Nis-Momme

Dramatiker und Romancier von der Insel Föhr

Geboren in Wyk auf Föhr am 17. August 1981

Am 25. März 2011 durfte mit Nis Momme-Stockmann erstmals ein reiner Dramatiker den im schleswig-holsteinischen Wesselburen, Kreis Dithmarschen, vergebenen Friedrich-Hebbel-Preis entgegennehmen. „Er wirkte wie ein Primaner im Abiturstress“, konnte man darauf der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung entnehmen,

hatte seine Freunde und seinen Vater mitgebracht, wunderte sich beim Rundgang durch das Wesselburener Hebbel-Museum, wie spartanisch der Alkoven ist, in dem der spätere Dichter als Schreiber des Kirchspielvogts geschlafen hat. Und er wollte sich vor Lachen ausschütten als er hörte, dass man einem Prominenten in der Ahnengalerie des Hauses die NS-braune Jacke nach der „Wende“ übermalt hat.

Erich Maletzke: Hebbel-Preis erstmals an einen Dramatiker verliehen. SHZ, 28.3.2011. Link, letzter Aufruf 21.6.2021.

Ausgezeichnet wurde der gebürtige Föhrer dafür, dass er, so die Jury, „in wenigen Jahren mit seinen Stücken die deutsche Theaterszene belebt“ habe. In der Tat war zu diesem Zeitpunkt bereits ein gutes halbes Dutzend von Stockmanns Stücken an großen Bühnen in Deutschland inszeniert worden, einige davon mit Preisen und Nominierungen bedacht, angefangen mit dem Durchbruchsdebüt Der Mann, der die Welt aß (2009, Uraufführung am Theater Heidelberg) bis zu Herkules Manhattans holistisches Kompendium des modernen Seins, Kapitel 2: Time Tunnel (2011, Schauspiel Frankfurt, wo Stockmann seit 2009 als Hausautor beschäftigt war).

Der Weg Nis-Momme Stockmanns ans Theater erscheint indessen durchaus nicht geradlinig oder gar vorherbestimmt. Sein Abitur macht er auf der Flensburger Duborg-Skolen, dem Gymnasium für Angehörige der dänischen Minderheit. Während dieser Zeit gibt es erste sachte Berührungen mit der Institution Theater:

Also, ich hab am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Flensburg an der Oper hospitiert und hab immer die Sänger gedoubelt. Das war wahnsinnig lustig. Unter anderem Pamina und die drei Damen aus der „Zauberflöte“. Bei öffentlichen Proben.

Wolf Eismann: Ausgerechnet Theater. Warum junge Autoren für die Bühne schreiben. Deutschlandradio Kultur, 13.5.2012. Link, letzter Aufruf 21.6.2021.

Nach dem Abitur studiert der junge Familienvater Stockmann zunächst Tibetologie in Hamburg, bricht das Studium aufgrund mangelnder Perspektiven ab, macht in Flensburg eine Kochausbildung, bricht auch diese ab, zieht mit der Familie nach Odense, wo er Medienwissenschaften studiert und 2007 erfolgreich abschließt, ehe er endlich das Fach Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin belegt und sich für den Beruf des Dramatikers entscheidet, nicht zuletzt aufgrund der künstlerischen Perspektiven, die ihm das Medium Theater zu bieten scheint:

Im Grunde sehe ich das Theater als eine Art Zukunftsmedium. Das klingt natürlich seltsam, weil die Medien, die als Zukunftsmedien annonciert werden, sind ja das Internet, die großen audiovisuellen Medien. Aber ich glaube, dass das Theater gerade durch seine Produktionsform ein Zukunftsmedium ist. Nämlich eines, das relativ schnell reagieren kann und das relativ frei von den marktwirtschaftlichen Zwängen der kanonischen Medien, also Film und Fernsehen, produzieren kann. Also Diskurse frei erzeugen könnte, wenn es sich denn von den Maßgaben frei macht, die es glaubt, dass sie an sie herangetragen werden. Gerade das interessiert mich am Theater.

Wolf Eismann: Ausgerechnet Theater. Warum junge Autoren für die Bühne schreiben. Deutschlandradio Kultur, 13.5.2012. Link, letzter Aufruf 21.6.2021.

Dabei sieht sich Stockmann, der neben der Theaterarbeit noch lange seine spartenübergreifende, experimentelle Arbeit fürs 2005 in Flensburg gegründete „Laboratorium“ (später Kunst- und Kulturinitiative/KKI) fortführt, „in einer relativ alten Erzähltradition“ stehend, lehnt „experimentelle Formen des Arbeitens nicht grundsätzlich“ ab, ist aber überzeugt, „dass es bestimmte Arten und Weisen gibt, in denen die menschliche Psyche mit bestimmten Geschichten besser korrespondiert.“#1

Mehrfach finden sich in seinen Stücken prägende, meist antagonistische Vater-Sohn-Konstellationen wieder, wobei Stockmann des Öfteren darauf hingewiesen hat, dass dies nicht als autobiographischer Wink zu deuten sei, auch nicht dann, wenn, wie im Stück Kein Schiff wird kommen#2, der Ort des Geschehens Stockmanns Heimatinsel Föhr und der Protagonist von Beruf Theaterautor ist.

Eben dieser ebenso namen- wie erfolglose Dramatiker Mitte 20 reist zu Beginn des Stücks aus Berlin zurück in die nordseeumspülte Inselheimat:

Also, ich sehe mich:
Ich fahre über das graue Meer, so wie hunderttausendmal vorher, starre auf das Wasser und denke an die Linde, die Wasserschildkröte, das Schlafsofa und die rote Katze ohne Namen. […]
„Meer“ ist eigentlich auch zu viel gesagt. Nicht mal ertrinken könnte man – überall ragen Sandbänke raus. Auf denen Robben liegen. Denkt man. Wenn man mal durch einen Feldstecher kuckt, den einem gegebenenfalls mal irgendein enthusiastischer, ornithologisch interessierter Mitreisefreund reicht, sieht man: Das sind bloß Steine.
Die Nordsee liegt hier zwischen den Inseln ganz platt und unaufgeregt rum. Zu jeder Tageszeit, jeder Jahreszeit. Schon lange wirbt sie nicht mehr für sich. Sie ist alt und müde. Aller Tand liegt längst in staubigen Truhen. Fluchende Postkartenfotografen säumen die Strände.

Nis Stockmann: Kein Schiff wird kommen. „Eine Fläche“. Theatermanuskript, Köln 2009, S. 4.

Der Grund für die unbequeme Reise: der Dramatiker möchte, mehr aus karrieristischem Kalkül denn aus echtem Interesse, ein Stück über die Wendezeit schreiben, und da er selbst damals erst fünf Jahre alt gewesen ist, hat er den Plan gefasst, seinen Vater zu befragen, wie dieser denn die Zeit des Mauerfalls erlebt habe, hier, auf diesem entlegenen Eiland, welches der Autor vor Jahren fluchtartig verlassen hat:

Und dann das Jahr darauf weg von der Insel, auf der ich geboren bin:
14 Jahre lang Küste
14 Jahre lang Dünen
14 Jahre lang Reet
14 Jahre lang im Winter geschlossenes Kino
Und getrocknete Blumen
Und vollgeschissene Hosen
In Ecken schlafende Säufer
14 Jahre lang!

Nis Stockmann: Kein Schiff wird kommen. „Eine Fläche“. Theatermanuskript. Köln 2009, S. 12.

Die Begegnung mit dem Vater gerät immer emotionaler, bis am Ende ein bislang gehütetes Familiengeheimnis gelüftet wird und der Sohn die Insel zum wohl letzten Mal verlässt:

Ich war am Haus von meinem Vater und ich habe diese schreckliche Empfindung, die mir im Licht zwischen Tag und Abend unerträglich vorkommt: Dass alles zu spät ist.
Ich weiß, dass das letzte Schiff gefahren ist.
Es gibt kein schlimmeres Gefühl, als an der Fähre zu stehen und zu wissen: Hier gibt es etwas, das kann ich nicht überwinden. Etwas, das übersteigt meine Macht. Etwas so Simples. Etwas so Kleines, was aber ein ganzes Universum erzwingt –
Ich starre auf das Wasser und denke an die Linde, die Wasserschildkröte, das Schlafsofa und die rote Katze ohne Namen.

Nis Stockmann: Kein Schiff wird kommen. „Eine Fläche“. Theatermanuskript. Köln 2009, S. 50f.

Schon 2009 hat die Theaterkritikerin Katrin Bettina Müller das besondere dramatische Talent des am Anfang einer beachtlichen Karriere stehenden Nis-Momme Stockmann erkannt:

Obwohl sie so sehr im Alltag wurzeln, sind Stockmanns Stücke von einem journalistischen oder dokumentarischen Blick weit entfernt. Die sprachlichen Formen stülpen das Innere der Figuren sehr deutlich nach außen. Zugleich sind die einzelnen Szenen rund gebaut. Er lernt das Handwerk des Dramatikers eben schnell. Und weil es ihm nicht an Selbstbewusstsein fehlt, wird man Nis-Momme Stockmann in der Theater- und Hörspielwelt noch öfter begegnen.

Katrin Bettina Müller: Der Meister der Ausflüchte. in: taz. die tageszeitung, 8. Mai 2009, S. 28.

Mittlerweile hat Nis-Momme Stockmann ein Dutzend Theaterstücke, mehrere Hörspiele und den Roman Der Fuchs (2016) veröffentlicht, für den er prompt für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde und in dem erneut eine (diesmal allerdings frei erfundene) norddeutsche Ortschaft den ebenso stimmungsreichen wie symbolhaften Hintergrund abgibt: die Kleinstadt Thule, die gleich zu Beginn von einem sintflutartigen Hochwasser heimgesucht wird, vor dem sich der Erzähler zunächst auf ein Hausdach und schließlich in die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend rettet:

Das Feld reißt ab, und dann tut sie sich vor uns auf: die Kulisse unserer Kindheit. Das offene, kahle, deichnahe Thule. Wir sind auf dem Weg zum Kanal. […] Er mündet in einen kleinen, künstlichen See vor einem alten Schöpfwerk, das ganz ohne menschliche Hilfe zu laufen scheint. Drum herum Heide, Salzwiesen und schmale Gräben, in denen schwarze Aale schwimmen. Die Landschaft wirkt sediert. […] „Deutschland pfeift hier durch die Zähne“, hat mein Großvater immer gesagt. „Deutschland weiß von dem Ganzen hier nix“, sagte meine Mutter dann immer, „und selbst wenn: Das hier ist keinesfalls in der Nähe vom Kopf.“ […]

Hinter dem Deich hört man das Meer wie ein gedämpftes Schnarchen. Gott schläft.

Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2016, S. 31f.

In der Antike galt die Insel Thule als die nördliche Grenze der Welt, gleichsam als Sehnsuchtsort und mystisches Eiland. Bei Nis-Momme Stockmann ist davon nicht viel übriggeblieben.

27.5.2021Jens Raschke

ANMERKUNGEN

1 Wolf Eismann: Ausgerechnet Theater. Warum junge Autoren für die Bühne schreiben. Deutschlandradio Kultur, 13.5.2012. Zitiert nach https://www.deutschlandfunkkultur.de/ausgerechnet-theater-pdf.media.42a19349f7d9b0ebb59e35e51dfd20e5.pdf (letzter Aufruf 21.6.2021).

2 Das Stück entstand 2009 als Werkauftrag des tt Stückemarktes, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung, und wurde am 19. Februar 2010 am Staatsschauspiel Stuttgart uraufgeführt.