Boy Lornsen

Lornsen, Boy

Vielfältiger Autor für Kinder und Erwachsene

Geboren in Keitum am 07. August 1922
Gestorben in Keitum am 26. Juli 1995

Am 7. August 1922 wurde er geboren. In Keitum auf der Insel Sylt. Er war sein Leben lang in der Nähe des Wassers zu Hause. Und seine Geschichten und Gedichte, nahezu alle schmecken nach salziger Seeluft.

In Brunsbüttel, in der Schleusenstadt am Kanal, haben wir uns kennengelernt. 1978. Zufällig. Ich, der Werbegrafiker, dessen Traum es war, Bücher zu gestalten. Er, der anerkannte Schriftsteller, der Schöpfer von Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt. Monate später rief Boy an und erzählte von seinem Störtebeker, von Magister Wigbold und dem Schiefhals. Boy sprach von seinem langjährigen Kampf mit dem Seeräuber … und fragte, ob ich Lust hätte, seine Geschichte zu illustrieren: Gottes Freund und aller Welt Feind. Natürlich hatte ich! Bald saßen wir zusammen, segelten mit den Vitalienbrüdern über die Baltische See nach Wisby und Stockholm oder über Kattegat und Skagerrak rauf nach Bergen. Boy erzählte und las vor. Mit dieser Stimme, die sich anhörte, wie wenn der starke Ast eines Baumes im Sturmwind knarrte.

Ein wütender Wind kämmte die Baltische See. Von Westen her kam er, hetzte seine Wellenhunde nach Osten zu, daß denen der Schaumgeifer vor den Mäulern stand. Mit den Wolken trieb er Schindluder, mal jagte er sie zuhauf, mal scheuchte er sie auseinander, bis ihnen das Fell in Fetzen davonstob. Dazu ließ er noch seine Böen pfeifen, um zu zeigen, wer hier Herr und Meister war.

Was für eine Sprache! So bildhaft. Zupackend. Ich war fasziniert. Irgendwann war seine Geschichte auch meine Geschichte. Ideen begannen zu sprießen, wucherten in unseren Köpfen und über den Tisch, und jeder Gedanke des einen war fruchtbarer Boden für neue Ideen des anderen. Den groben Kurs hatten wir schnell abgesteckt: Keine Illustrationen, die lediglich das Textgeschehen wiederholen! Und keine „action“-Bilder, aus denen Hanseblut nur so spritzt! Aber: Wie sieht eine Kogge aus, was ist ein Krähennest, wo liegt Santiago de Compostela, und wie genau muss man sich die Dänenfalle des Magister Wigbold im Eis vor Dalarö vorstellen? Diese Fragen mussten beantwortet werden. Und dabei, das war uns inzwischen klar, musste das Bild den Text unterstützen.

In den folgenden Wochen sahen wir uns häufiger. Mittlerweile hatten die Bilder, die in unseren Köpfen herumschwirrten, bereits auf Papier Gestalt angenommen. Obwohl sich diese ersten Skizzen und Entwürfe im Lauf der Zeit noch hier und da verändern sollten, entsprachen sie im Wesentlichen schon den späteren Illustrationen. Im Grunde hatten wir ja auch alles besprochen. 1980 ist unser Störtebeker erschienen.

Unser zweites gemeinsames Projekt waren drei schmale Bücher für Erstleser: Williwitt und Fischermann, Williwitt und der große Sturm, Williwitt und Vogelmeier. Geschrieben in einer einfachen Sprache. Ich erinnere mich gut daran, wie sehr Boy an diesen kurzen Texten gefeilt hat, wie sehr um die richtigen Worte gerungen. Nur wenige stehen in einer Zeile. Und dennoch wohnt in ihnen eine Melodie, ein ganz besonderer Klang.

Ungefähr da,
wo sich der Elbe-Fluss
mit der Nordsee trifft,
macht der Deich einen Buckel.
Drei Kastanienbäume gucken
neugierig über den Deich.
Dazwischen rauchen
noch zwei Schornsteine.
Und genau da wohnen
Williwitt und Fischermann.

So beginnt der erste Band.

Im Hafen wartet
die DICKE LISBETH.
So heißt
Fischermanns Fischkutter.
Genau wie Fischermanns Frau!
Die DICKE LISBETH ist klein
und vorn und hinten rund.
Genau wie Fischermanns Frau!
Die DICKE LISBETH
ist schwarz und weiß
und grün und gelb angemalt.
Und das
ist Fischermanns Frau nicht!

Stärker noch als beim Störtebeker gehen in den Williwitt-Geschichten Wort und Bild aufeinander ein, ergänzen einander. Manchmal sagen ein paar Zeichenstriche eben mehr als viele Worte. Dessen war Boy sich schon beim Schreiben bewusst. So kam es, dass jede Illustration ihren ganz bestimmten Platz in der Geschichte forderte. Wenn Boy etwa von dem runden Ding mit zwei Zeigern erzählte, musste anschließend das Barometer im Bild erscheinen. Und auch das Funkgerät musste gezeigt werden, bevor Fischermann an den Knöpfen drehen konnte.

Es folgten weitere gemeinsame Bücher: Nis Puk in der Luk, Traugott und das Wildschwein, Jakobus Nimmersatt, Die Möwe und der Gartenzwerg oder Wie groß ist die Welt und all die anderen. Es war eine Zusammenarbeit, in der ich ungeheuer viel gelernt habe. In der Arbeit. Und als Mensch.

Anfang der 1980er Jahre zog es Boy zurück auf die Insel. In das Haus, in dem schon seine Großeltern zu Hause waren. Es war ein offenes Haus. Eines, in dem jeder Mensch willkommen war. Der Professor aus Tübingen, die Haushaltshilfe Edith und all die anderen. Sie saßen am großen runden Tisch neben der Küchenzeile. Kosteten den Schinken, der länger als alle anderen im Rauch hing und von dem Boy mit scharfem Messer hauchdünne Scheiben schnitt. Tranken vom roten Wein, der im Keller lagerte und sich oftmals „Donna Fugata“ nannte. Redeten. Und redeten. Lew Kopelew und seine Frau Raissa Orlowa-Kopelewa saßen dort. Irina Korschunow. Ich erinnere mich an Inge und Walter Jens, den guten Freund und schreibenden Kollegen, der einst erkannte:

Wohin immer man blickt: Nähe und Ferne gehören in Boy Lornsens Werk zusammen als Realität, die nach Nordsee schmeckt, und als Mythos, der das Wirkliche ins Zeichenhafte der Dichtung erhebt: Hemingway und Melville grüßen von fernher, über den Ozean hinweg.

Ich denke an Boys Geburtstage. An den 60sten. Den 65sten. Den 70sten. An die Kollegen, die zu Gast waren. Die um den runden Tisch herum hockten oder draußen im Garten. An Achim Bröger etwa und Herbert Plate, an den Märchensammler und Jugendbuchautor Frederik Hetmann, der eigentlich Hans-Christian Kirsch hieß, und all die anderen, die sich in diesem offenen Haus willkommen und zu Hause fühlten. Am 26. Juli 1995 ist Boy gestorben. In diesem Haus. In Keitum auf der Insel Sylt.

Und am Ende? In seinen letzten Lebensjahren?Da erzählte Boy vom Anfang allen Seins: Sien Schöpfung un wat achterno keem. In plattdeutschen Versen schilderte er seine Version der Schöpfungsgeschichte. Tiefsinnig. Ernsthaft. Humorvoll.

Mit rein gornix fung he an.
Keen Farv. Keen scharpe Kant.
All griesen Kroom un keen Holfast.
Keen Witt, keen Swatt un keen Kuntrast.
Un doran leggt he Hand.

Gottvadder, so nannte er den Weltenschöpfer. Der trennt das Licht von der Finsternis, baut den Erdenball und Sonne, Mond und Sterne. Und auf den letzten Seiten dieses wunderbaren Werkes heißt es:

Sien Tiet ward kott.
De Eer hett duusend Leven.
Is de Mensch ween, denn weet blot Gott:
Den Mensch hett dat mol geven.

Meine Gedanken fliegen fort. Weit zurück fliegen sie. Ins Jahr 1978. Da haben wir uns kennengelernt. Boy Lornsen, der Schreiber von der Küste und ich, der Zeichner, der später auch in der Buchstabensuppe zu rühren begann. Den Mensch hett dat mol geven. Wie gut, dass es ihn gab. Dass wir uns begegnet sind. Dieser Mensch hat mein Leben verändert. Ich habe - viel zu früh - einen väterlichen Freund verloren.

Lieber Boy, ich danke dir für so vieles.

14.10.2022 Manfred Schlüter

 

Der Text erschien zuerst im September 2022 im Magazin JuLit. Eine längere Fassung erschien in der Sommerausgabe 2022 von Schleswig-Holstein - Die Kulturzeitschrift für den Norden.