Hans Egon Holthusen

Holthusen, Hans Egon.

Konservativer Doyen des bundesdeutschen Literaturbetriebs mit SS-Vergangenheit

Geboren in Rendsburg am 15. April 1913
Gestorben in München am 21. Januar 1997

Im Jahr 2019 tauchte der als Literat weitgehend vergessene Hans Egon Holthusen noch einmal auf: In Willi Winklers Studie Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde ist er einer der titelgebenden Nationalsozialisten, der trotz seiner SS-Vergangenheit in der Bonner Republik zu Einfluss und Würden als Intellektueller und Kritiker gelangen konnte. Auch zu Lebzeiten war Holthusen keineswegs eine unkontroverse Figur, aber sein Nimbus als Schwergewicht des Kulturbetriebs ist offenbar mit der alten Bundesrepublik untergegangen.

Geboren wurde Holthusen 1913 in Rendsburg; seine Kindheit und Jugend verbrachte er überwiegend in Niedersachsen. Als Jugendlicher will der Autor, der hier über sich in der dritten Person schreibt, kommunistisch-revolutionär gesinnt gewesen sein:

Mit sechzehn begann er für Lenin und die Bolschewiken zu schwärmen, er verschlang an linksradikaler Literatur, was er nur ergattern konnte […]. Als Primaner besuchte er in einer schüchtern angedeuteten Vermummung, die er für proletarisch hielt, kommunistische Wahlversammlungen, auf der Universität kam er mit roten Studentengruppen in Berührung.

Hans Egon Holthusen: Freiwillig zur SS. In: Merkur H. 223 (1966), S. 921-939 u. H. 224 (1966), S. 1037-1049, hier S. 922.

Dennoch wandelt er sich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und tritt bereits im Oktober 1933 in die SS ein. Über die Gründe hierfür hat er sich 1966 in einem ausführlichen, aber seltsam vagen Text ausgelassen, der die fragwürdige Entscheidung zu einem eher privaten Prozess der Selbstfindung verniedlicht:

Sein Eintritt in die SS war also nicht der Ausdruck einer Bekehrung zu den Ideen des Nationalsozialismus. Im Gegenteil: er war der erste Schritt auf einer Bahn, die zu einer entschiedenen Entpolitisierung seines Denkens führen sollte.

Hans Egon Holthusen: Freiwillig zur SS. In: Merkur H. 223 (1966), S. 921-939 u. H. 224 (1966), S. 1037-1049, hier S. 938.

Nach einem literaturwissenschaftlichen Studium promoviert Holthusen 1937 mit einer Arbeit über Rilke, der auch seine eigene Dichtung beeinflusst und zu dem er publizistisch immer wieder zurückkehren wird. Im selben Jahr verlässt er die SS, tritt aber dafür der NSDAP bei. Er macht erste schriftstellerische Versuche und erste Schritte zu einer wissenschaftlichen Karriere, bevor er eingezogen wird und als Funker an die Front muss.

Nach dem Ende des Kriegs und des nationalsozialistischen Systems startete Holthusen sofort als Autor durch: Schon im ersten Heft der später in der Bundesrepublik enorm einflussreichen Zeitschrift Merkur ist er 1947 mit einem Gedicht vertreten. #1 Zwei Jahre später folgt der Gedichtband Hier in der Zeit, in dem er seinen lyrischen Stil findet: Existenzialistisch, mit einigem Pathos, klassischen Formen und oft aus einer soldatischen Perspektive.

Ach, es war die Stunde der Schlachtung am düsteren Stein der Geschichte,
Während Vernunft, sich verschleiernd, zurücktrat. Die Völker sind schrecklich.

Hans Egon Holthusen: Trilogie des Krieges 1. In: Hier in der Zeit. Gedichte. München: Piper 1949, S. 9.

Gleichzeitig reüssiert Holthusen auch als Kritiker – im selben Jahr wie der Gedichtband erscheint eine Studie über Thomas Mann, die seine lyrische Positionierung als desillusionierter Kriegsheimkehrer flankiert, indem der Exilant Mann und sein neuester Roman Doktor Faustus wütend angegriffen werden. Wenn Holthusen Thomas Mann „glattzüngige Unverbindlichkeit“ #2 und sozialistische Neigungen vorwirft, bringt er sich stillschweigend selbst als Vertreter einer tiefsinnigen, konservativen und am Wesentlichen orientierten Literatur ins Spiel, und die Rechnung geht auf: Mit seiner Abwehr des offen antifaschistischen Autors Mann und der Betonung deutschen Leids trifft er im restaurativen Klima der frühen Bundesrepublik einen Nerv. Schon wenige Jahre später kann er, nun hauptsächlich als Literaturkritiker unterwegs, für sich selbstbewusst eine Position beanspruchen, die der der besprochenen Autor*Innen nicht nachsteht:

Kritik und Autorschaft sind nicht scharf auseinanderzuhalten. Wo der Kritiker sich durchstreitet bis zu den Quellen des ursprünglichen Lebens, da kann auch in seiner Hand das Wasser der Wahrheit sich ballen. […] Wie der Dichter, so nimmt auch er am ewigen Spiel um den Sinn des Menschseins teil.

Hans Egon Holthusen: Ja und Nein. Neue kritische Versuche. München: Piper 1954, S. 12.

1956 erhielt Holthusen den Kulturpreis der Stadt Kiel. Im selben Jahr erschien sein einziger größerer Prosatext Das Schiff, in dem er eine Reise von den USA nach Europa an Bord eines Ozeandampfers als quasi-soziologische Studie eines ironisch-desillusionierten Passagiers erzählt. Das Buch wurde kein Erfolg, aber insgesamt stieg Holthusens Stern immer weiter: In den politisch bewegten 1960er Jahren war seine anti-aktivistische Position mit Attacken auf Autoren wie Günter Grass oder Hans Magnus Enzensberger leicht aktualisiert, und Holthusen fand in konservativen Kreisen großen Anklang. Er übernahm Aufgaben als Kulturfunktionär und leitete beispielsweise in den frühen Sechzigern das Goethe-Haus (Vorläufer des Goethe-Instituts) in New York sowie die Sektion Literatur an der Akademie der Künste in West-Berlin. Von 1968 bis 1981 war er Professor für Deutsche Literatur an der Northwestern University in Chicago.

Bei aller Prominenz war Holthusen nie unumstritten: Seine Nazi-Vergangenheit war ein schlecht gehütetes Geheimnis, und schon nach seiner ersten Gedichtveröffentlichung im Merkur ging dort 1947 ein Leserbrief ein, der beklagt, es sei „weiss Gott nicht einzusehen, wie dieser Mann, der der Allgemeinen SS angehörte und als Schulungsredner doch lebhaft in der SS seiner Heimatstadt [Hildesheim] gewirkt hat, nun schon wieder – als sei nichts gewesen – publizieren darf.“ #3 1960 weigerte sich die Autorin Mascha Kaléko, die als Jüdin ins Exil gezwungen worden war, den Fontane-Preis der Akademie der Künste anzunehmen, weil Holthusen in der Jury gesessen hatte. Die Akademie stellte sich hinter ihr Mitglied, beschönigte dessen SS-Karriere als Jugendsünde und kanzelte die Protestierende ab: „Wenn den Emigranten nicht gefällt, wie wir die Dinge hier handhaben, dann sollen sie doch fortbleiben“, befand der Generalsekretär Herbert von Buttlar. #4 Auch der bereits zitierte Essay Freiwillig zur SS entstand 1966 als Reaktion auf öffentliche Angriffe: Pikiert berichtet Holthusen, er werde „in deutschen und ausländischen Zeitungen immer einmal wieder als ‚ehemaliger SS-Mann‘ angeprangert, meist von Leuten, die ihn und seine Schriften nicht kannten oder noch nicht einmal seinen Namen richtig schreiben konnten“. #5 Die hier zur Schau gestellte Larmoyanz und der überaus apologetische Ton (der in der Behauptung gipfelt, Holthusen habe sich der SS deswegen angeschlossen, weil deren schwarze Uniform als „chic“ und „elegant“ gegolten habe #6) führte wiederum zu publizistischen Gegenreaktionen, etwas vom Auschwitz-Überlebenden Jean Améry: „ich bin nur einer, der Angst haben mußte vor Ihrer feschen Uniform.“ #7 Dennoch konnte die Diskussion über seine Vergangenheit  Holthusen nie etwas anhaben. Zwar war er in seinen letzten Lebensjahrzehnten im Kulturbetrieb etwas weniger präsent, doch der 1984 erhaltene Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein sowie das 1987 an ihn verliehene Große Bundesverdienstkreuz bezeugen seinen unverminderten Status. #8 1997 ist er in seinem langjährigen Wohnort München verstorben.

17.6.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Zur jahrzehntelang produktiven Arbeitsbeziehung zwischen Holthusen und dem Merkur vgl. Hanna Klessinger: Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift Merkur in den Jahren 1947 bis 1956. Göttingen: Wallstein 2011.

2 Hans Egon Holthusen: Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns „Dr. Faustus“ und seinen Nebenschriften. Hamburg: Ellermann 1949,  S. 54.

3 Zitiert nach Willi Winkler: Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde. Berlin: Rowohlt 2019, S. 183.

4 Jan Koneffke: „Aber warum sind Sie so ernst?“ Über Mascha Kaléko. Neue Zürcher Zeitung vom 16.3.2013, online unter https://www.nzz.ch/aber-warum-sind-sie-so-ernst-ld.1026983.

5 Hans Egon Holthusen: Freiwillig zur SS. In: Merkur H. 223 (1966), S. 921-939 u. H. 224 (1966), S. 1037-1049, hier S. 923f.

6 Ebd., S. 938.

7 Zitiert nach Willi Winkler: Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde. Berlin: Rowohlt 2019, S. 208.

8 Vgl. den Artikel zu Holthusen im Literaturportal Bayern: https://www.literaturportal-bayern.de/autorinnen-autoren?task=lpbauthor.default&pnd=118706675