Karl May in Schleswig-Holstein – Schleswig-Holstein bei Karl May

Er zeichnet und malt genial, ist Virtuos verschiedener musikalischer Instrumente und spricht außer französisch, englisch, deutsch, italienisch, spanisch, portugiesisch und den sämmtlichen alten Sprachen auch türkisch, arabisch, persisch und chinesisch. Der Mann ist ein Mirakel!

Hier ist nicht von Karl Mays omnipotentem Helden Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi die Rede, dem May seine außerordentliche Popularität verdankt. Nein, es geht um den Grafen von Saint-Germain, Karl Mays einzigen mit Schleswig-Holstein verbundenen Protagonisten. Die an historischen Ereignissen orientierte Erzählung Aqua benedetta erschien 1878 unter dem Namen von Mays späterer Ehefrau Emma Pollmer in der Zeitschrift Frohe Stunden und zwei Jahre später in leicht erweiterter Fassung mit dem Titel Ein Fürst des Schwindels unter dem Pseudonym Ernst von Linden im Deutschen Hausschatz.#1Für Karl May ungewöhnlich ist die Gliederung in drei Abschnitte, die zu drei verschiedenen Zeiten an drei verschiedenen Orten spielen: Paris, Den Haag und Eckernförde. Der Graf von Saint-Germain und der Held der Erzählung, Baron von Langenau, der den Grafen als Scharlatan überführen möchte, treffen zunächst im Garten von Versailles aufeinander, wo der berühmte Abenteurer noch die Oberhand behält und sich als Alchemist, Wunderheiler und Diplomat am Hofe Ludwigs XV. einführt. Das zweite Kapitel spielt „Im Haag“. Dort deckt der Baron von Langenau zusammen mit Casanova und einem niederländischen Chemiker einen Täuschungsversuch des Hochstaplers auf. Im dritten und letzten Kapitel wechselt der Schauplatz von den beiden europäischen Großstädten internationaler Bedeutung ins beschauliche schleswig-holsteinische Städtchen Eckernförde.

Der Prinz Karl von Hessen-Kassel, dänischer Feldmarschall und Statthalter der Provinzen Schleswig und Holstein, saß in seinem Polsterstuhle, auf den ihn das leidige Podagra bannte, und blätterte sehr eifrig in alten, vergilbten Manuscripten herum.

Bei diesem an Alchemie und Magie interessierten Marschall verbringt der Graf von Saint-Germain seinen Lebensabend. Zusammen mit dem Prinzen Paranow, dem der Graf einen gefälschten Diamanten verkauft hat, wohnt der Baron von Langenau einem vom Marschall ausgerichteten Zauberabend bei. Als Saint-Germain ihn erkennt, kommt es zu einem Wortgefecht, das im Duell und mit dem Tod des Grafen endet, der vorher noch großspurig verkündet hatte, sein aqua benedetta könne vor Alter, Tod und Verwundung schützen.

Während die zahlreichen Talente des Grafen von Saint-Germain an den Tausendsassa Old Shatterhand erinnern, hat er, was die Betrügereien anbelangt, nicht wenig mit dem Autor selbst gemein.

Karl May wurde am 25. Feburar 1842 in dem sächsischen Städtchen Ernstthal in einer armen Weberfamilie geboren. Durch die materielle Not erreichten neun seiner 13 Geschwister nicht einmal das dritte Lebensjahr. May fiel bereits in der Grundschule als begabt auf, konnte aber aus finanziellen Gründen kein Gymnasium besuchen, selbst die Finanzierung der Seminarausbildung zum Volksschullehrer gestaltete sich als Herausforderung. Während dieser Ausbildung geriet May zum ersten Mal in Konflikt mit dem Gesetz: Zur Weihnachtszeit entwendete er aus der Kirche ein paar Kerzen, um seiner Familie damit eine Freude zu machen. Er musste die Ausbildung andernorts fortsetzen. Seine Arbeit als ausgebildeter Lehrer währte kaum zwei Monate. Erst wird er wegen unsittlicher Annäherung an die Ehefrau seines Vermieters entlassen; die zweite Stelle endet mit einer Verhaftung wegen Uhrendiebstahls. May hatte sich die Uhr seines Mitbewohners für den Unterricht geborgt und war am Heiligen Abend, ohne sie zurückzubringen, direkt zu seinen Eltern gefahren. Er wird zu sechs Wochen Haft verurteilt und aus der Liste der Lehrerkandidaten gestrichen. In dieser ausweglosen Zeit beginnt May seine Karriere als Betrüger: Als Dr. med. Heilig lässt er sich von einem Schneider neu einkleiden und verschwindet mit den Kleidern, ohne die Rechnung zu bezahlen; als Seminarlehrer Lohse lässt er sich Pelze zeigen und verschwindet ebenso spurlos mit ihnen. Bemerkenswert bei seinen Auftritten ist, dass er in seine Rolle regelrecht eintaucht. Als Dr. Heilig soll er sogar ein glaubwürdiges Attest für einen Augenkranken ausgestellt haben. #2 Nach drei Jahren in der Strafanstalt Zwickau wird May vorzeitig entlassen, wird aber bald wieder rückfällig und beschlagnahmt als Polizeileutnant angebliches Falschgeld, sodass weitere vier Jahre Haft im Zuchthaus Waldheim folgen. Erst nach dieser Zeit gelingt es May allmählich, sich durch schriftstellerische Tätigkeiten selbst zu finanzieren. Zunächst arbeitet er als Redakteur beim Kolportageverleger Münchmeyer, dann bei Bruno Radelli für die Frohen Stunden. 1879 beginnt er regelmäßig und mit zunehmendem Erfolg Erzählungen bei Pustet im Deutschen Hausschatz zu veröffentlichen. Bereits 1875 konnte er erste kurze Wild-West-Erzählungen publizieren (Inn-nu-woh, Old Firehand); bei Pustet erschien ab 1881 die erste Version seines späteren Orientzyklus und damit „der Durchbruch zur eigenständigen epischen Gestaltung, der großen abenteuerlichen Reise-Erzählung in der Ich-Form, die erst von ihm geschaffen worden ist und seinen Erfolg bis heute trägt.“ #3 Zeitgleich schreibt May jedoch unter Pseudonym an sechs äußerst umfangreichen Kolportageromanen für den Münchmeyer-Verlag. Das Versteckspiel mit den Identitäten hört also nicht auf. Spätestens als May 1887 mit der Veröffentlichung von Jugenderzählungen im katholischen Guten Kameraden beginnt (u.a. Der Schatz im Silbersee, Der Sohn des Bärenjägers), wird eine unbefleckte bürgerliche Existenz wichtig. Er gibt die Kolportage auf und konzentriert sich ganz auf die Reiseerzählungen – und meldet sich bei der Polizei als Dr. phil. an. 1892 erscheint der erste Band der Gesammelten Reiseromane im Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld(heute die Gesammelten Werke im Karl-May-Verlag). May wird zu einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller und er wird reich. Mit dem Erfolg der 1890er Jahre und dem Kauf der „Villa Shatterhand“ in Radebeul behauptet Karl May immer öfter, der Ich-Erzähler seiner beliebten Reiseerzählungen selbst zu sein, lässt sich eine Silberbüche, einen Henrystutzen und einen Bärentöter anfertigen und beantwortet Leserbriefe als Old Shatterhand. #4 Die Old-Shatterhand-Legende ist geboren. Während seiner tatsächlichen Orientreise als Tourist 1898 bis 1900 kommen erst seine Kolportageromane und dann seine Vorstrafen ans Licht. Die letzten zwölf Lebensjahre von Karl May sind von zahlreichen Kampagnen gegen May und von Prozessen geprägt sowie von seiner schriftstellerischen Hinwendung zum Symbolismus und Pazifismus.

Obwohl Karl May als alter Mann den finanziellen Erfolg seiner Bücher nutzte, um doch noch den ein oder anderen Schauplatz seiner Reiseerzählungen zu besuchen, obwohl er u.a. bis in die USA, nach Kanada, Sumatra, Eritrea und Ägypten fuhr – das kleine Land zwischen den Meeren betrat er vermutlich nie. Bremerhaven und Hamburg blieben die nördlichsten deutschen Gefilde, in denen er sich aufhielt.

Die Apachen seines Blutsbruders Winnetou hingegen wurden in den 1980er Jahren gelegentlich an den Stränden der Lübecker Bucht gesichtet, wo sie Werbung für die Bad Segeberger Karl-May-Festspiele machten. #5 Seit 1952 reitet der große Häuptling der Apachen regelmäßig durch die Kalkbergarena. Ursprünglich war das Freilichttheater unter dem Namen „Nordmark-Feierstätte“ 1937 als Thingplatz für germanischen Kult erbaut worden. #6 Genutzt wurde die Bühne unter der Herrschaft der Nationalsozialisten jedoch kaum. 1952 sollte sie durch die „Winnetou-Festspiele“ in der Tradition der Karl-May-Spiele in Rathen zu neuem Leben erwachen. Auch hier handelt es sich jedoch um ein nicht unproblematisches Erbe, schließlich wurden die Spiele auf der Felsenbühne in der Sächsischen Schweiz erstmals 1938 unter großem Jubel der sächsischen nationalsozialistischen Presse ausgerichtet. #7 So betont der Lübecker Oberspielleiter Robert Ludwig, auf dessen Initiative Winnetou1952 nach Bad Segeberg kommt, dass Mays Helden „aus tiefsten Herzen wünschten […], daß das Kriegsbeil einmal für alle Menschen begraben würde.“ #8 (Die Alternative wären Hebbel-Festspiele mit den Nibelungen gewesen, ein Stoff, der im ‚Dritten Reich‘ noch weitaus mehr missbraucht wurde. #9) Von Anfang an war die gesamte Stadt mit großem Engagement dabei, Kostüme mussten geschneidert werden, Statisten und Pferde wurden gebraucht. „Winnetou lebt!“ titelten die Lübecker Nachrichten zur Premiere. Die Zuschauerränge waren bereits in der ersten Saison voll besetzt, sodass Winnetou 1953 gleich noch einmal wiederholt wurde. Wulf Leisner (1907–1977) übernahm ab 1953 für 17 Saisons die Intendanz und schrieb Mays Romane selbst in Bühnenstücke um, die für ihre große Werktreue bekannt waren. 1955 wagte er mit Hadschi Halef Omar erstmals den Schauplatzwechsel in den Orient. #10 Von Beginn an waren immer wieder Ausschnitte oder ganze Stücke der Bad Segeberger May-Aufführungen im Fernsehen zu sehen. Als 1962 die ersten Winnetou-Filme in die Kinos kamen, war die Angst vor der Konkurrenz so groß, dass Winnetou in Bad Segeberg in diesem Jahr nur in einer Nebenrolle auftreten durfte. Gleichzeitig hatte man in Bad Segeberg Angst, den Winnetou-Darsteller Heinz Ingo Hilgers zu verlieren und leitete daher die Anfrage der Filmemacher nicht weiter, sodass Pierre Brice den Part bekam. #11 Mit Klaus-Hagen Latwesen (*1940) als Winnetou und von 1981 bis 1987 auch als Intendant, Stückeschreiber und Regisseur erhielt das Actiontheater mit galoppierenden Pferden, Zweikämpfen, Tänzen, fliegenden Adlern und Klettereinlagen und 1983 sogar mit einem Löwen am Kalkberg Einzug. Wieder etwas ruhiger wurde es, als 1988 der damals fast sechzigjährige Pierre Brice die Hauptrolle übernahm. Auch er schrieb die Texte selbst, die deutlich an May-Nähe einbüßten. #12 Die Zuschauerzahlen stiegen durch seine Popularität rasant. Der älteste aktive Winnetou-Darsteller aller Zeiten und zugleich der mit dem längsten Durchhaltevermögen in Bad Segeberg ist Gojko Mitic: Von 1992 bis 2006 ritt er majestätisch als Apachenhäuptling durch die Arena. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Ära Norbert Schultze jr. und Michael Stamp. Von 1996 bis 2019 führte Schultze jr. insgesamt 19 Mal die Regie, seit 2011 ununterbrochen. Michael Stamp schrieb mit Ausnahme von 1999 alle Textbücher seit 1998. Die Karl-May-Spiele begannen in dieser Zeit vermehrt auf den Ruhm einzelner Gaststars aus Film und Fernsehen zu setzen. Die anhaltenden Zuschauerzahlen geben ihnen Recht, mag sich die Kritik auch an der teilweise nur noch losen Anlehnung an Mays Texte, der kalauernden Komik oder den pathetischen Friedensreden stören. Die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg jedenfalls verzeichnen nun bereits acht Spielzeiten in Folge neue Besucherrekorde. 2019 und 2022 konnte mit Alexander Klaws als Winnetou die 400.000er-Marke geknackt werden. #13

25.11.2022 Theresa Homm

ANMERKUNGEN

1 Band 48: Das Zauberwasser und andere Erzählungen in den Gesammelten Werken im Karl May Verlag.

2 Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch, hg. von Gert Ueding. Würzburg 2001, S. 67–111, hier S. 80.

3 Ebd., S. 90.

4 Helmut Schmiedt: Karl May oder die Macht der Phantasie. Eine Biographie. München 2011, S. 138 ff.

5 Vgl. Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke: Am Fuße des Kalkbergs. Das Bad Segeberger Karl-May-Spektakel in den 80ern. Eine Retrospektive. Hamburg 2008, S. 17 und 34.

6 Vgl. NDR: Das Kalkbergstadion: Von der NS-Stätte zum Karl-May-Theater. (16.08.2022) https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Das-Kalkbergstadion-Von-der-NS-Staette-zum-Karl-May-Theater,kalkberg103.html; Ulrich Neumann: Die Rolle des Freilichttheaters im Nationalsozialismus. In: Karl May & Co Nr. 152 (2018), S. 11.

7 Vgl. Ulrich Neumann: „Karl May als wertvolle Volksunterhaltung. Vor 80 Jahren: „Winnetous heroisches Leben und Streben“ auf der Felsenbühne Rathen zwischen Wild-West-Romantik und Nazi-Propaganda, Teil 1: Karl-May-Spiele Rathen 1938. In: Karl May & Co Nr. 152 (2018), S. 6–13.

8 Robert Ludwig zitiert nach: Peter Zastrow/Hans-Werner Baurycza: Eine Stadt spielt Indianer. Aus den Anfangsjahren der Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg. (Segeberger Blätter, Bd. 2). Duderstadt 2011, S. 13.

9 Peter Zastrow/Hans-Werner Baurycza: Eine Stadt spielt Indianer. Aus den Anfangsjahren der Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg. (Segeberger Blätter, Bd. 2). Duderstadt 2011, S. 8.

10 Ebd., S. 61 ff.

11 Nicolas Finke: Der stumme Old Shatterhand. Wie die Karl-May-Filmwelle in den Sechzigerjahren die Karl-May-Spiele Bad Segeberg und die TV-Fassungen des Norddeutschen Rundfunks beeinflusste. Karl May und das deutsche Fernsehen (IX). In: Karl May und Co, Nr. 129 (2012), S. 38–47.

12 Peter Zastrow/Hans-Werner Baurycza: Eine Stadt spielt Indianer. Aus den Anfangsjahren der Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg. (Segeberger Blätter, Bd. 2). Duderstadt 2011, S. 121.

13 https://www.karl-may-spiele.de/news/saison-abschluss-2022