Ferdinand Tönnies

Tönnies, Ferdinand Julius

Mitbegründer der Soziologie in Deutschland, Philosoph, Nationalökonom, Publizist

Geboren bei Oldenswort am 26. Juli 1855
Gestorben in Kiel am 9. April 1936

Ferdinand Tönnies‘ Vater August Tönnies war Landwirt und späterer Spekulant, 1849 heiratete er Ida Friederica, geborene Mau. #1 Tönnies war das dritte Kind, insgesamt hatte er sechs Geschwister. Als Schüler in Husum, wo er 1872 sein Abitur am Königlichen Gymnasium machte, lernte er im Alter von 14 Jahren den Dichter Theodor Storm kennen, der für ihn bis zu seinem Lebensende prägend war. Die beiden verband auch ein langjähriger Briefwechsel, aus dem deutlich wird, dass dem Dichter an der Meinung des jüngeren Freundes gelegen war. So freut sich Storm in einem Brief aus dem April 1888, dass der Schimmelreiter Tönnies zusagte. #2 In seinen Lebenserinnerungen stellt Tönnies seine Kindheit in einen deutlich politischen Kontext:

Wenn ich nun auch an die Zeit meiner frühen Kindheit zurückdenke, so muß ich sogleich die politischen Verhältnisse sich erinnern, die nicht nur seit Jahrhunderten durch das Verhältnis der Herzogtümer (die ja auch die Elbherzogtümer hießen) zum Königreich Dänemark und ihrem Monarchen, der zugleich Herzog in diesen Herzogtümern war, besonders für Schleswig sich schwierig entwickelt hatten, sondern durch die jüngsten Ereignisse sich schwer verdüstert hatten.

Ferdinand Tönnies: [Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1935 an Kindheit, Schulzeit, Studium und erste Dozententätigkeit (1855-1894)], in: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23,2 Nachgelassene Schriften 1919-1936, hrsg. v. Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander, Berlin/New York 2005, S. 509.

Nach der Schule absolvierte Tönnies ein Studium der klassischen Philologie an verschiedenen Universitäten, darunter in Jena, Berlin und Kiel. 1877 verfasste er seine Doktorarbeit mit dem Titel De Jove Ammone questionum specimen, mit der er an der Tübinger Universität promoviert wurde. Es geht hierin um das Orakel des Ammon in der ägyptischen Oase Siwa. Im Anschluss wandte er sich der Philosophie zu, wobei er auch wirtschaftliche wie sozialwissenschaftliche Aspekte berücksichtigte. Tönnies strebte eine akademische Karriere an. 1881 wurde er habilitiert, als Habilitationsthema wurden einige seiner frühen Aufsätze über Thomas Hobbes akzeptiert. Während seiner Forschung zu Hobbes entdeckte er in Archiven in England die Manuskripte grundlegender Werke von Thomas Hobbes, die er Ende der 1880er Jahre herausgab: Behemoth or the Long Parliament und The Elements of Law. Natural and Politic. Tönnies legte so die Grundlagen der modernen Rezeptionsgeschichte von Hobbes im 20. Jahrhundert.

1887 veröffentlichte er nach mehreren Jahren Arbeit mit Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen sein bis heute bekanntestes Werk, das bis einschließlich 1935 acht Auflagen erlebte. Ab der zweiten Auflage, die 1912 erschien, lautete der Untertitel Grundbegriffe der reinen Soziologie.#3 In dem Buch legt er den Fokus auf die Unterscheidung von kollektiven und individuellen Interessen und zeigt so auf, warum man beispielsweise nicht von einer gespaltenen Gesellschaft schreiben kann. Besonders prominent wurde das Werk im Zuge der Jugendbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

1894 heiratete Tönnies Marie Sieck, Tochter eines Pächters aus dem ostholsteinischen Kirchnüchel. Sie zogen nach Hamburg, 1898 wurde das erste Kind des Ehepaars geboren, im selben Jahr zogen sie nach Altona. Die Stadt gehörte damals noch zu Holstein. Von 1900 bis 1921 lebte die Familie in Eutin, insgesamt hatten Ferdinand und Marie Tönnies fünf gemeinsame Kinder. Ab 1921 lebte die Familie Tönnies in Kiel, in einem Haus im Niemannsweg 61. #4

An der Universität blieb Tönnies lange Jahre Privatdozent. Ein Hindernis für eine Professor war seine Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, an deren Gründung er 1892 maßgeblich beteiligt war. #5 Diese setzte sich für eine umfassende Sozialreform ein, die der damaligen gesellschaftlich-politischen Ordnung entgegenstand. Dem preußischen Kulturminister Friedrich Althoff war dieses Engagement ein Dorn im Auge und er verhinderte Tönnies‘ Fortkommen, da Tönnies keinerlei Anstalten machte, sich von der Bewegung zu distanzieren. Tönnies‘ kritische Begleitung des Hamburger Hafenarbeiterstreiks der Jahre 1896/1897 und seine Unterstützung der Forderungen der Arbeiter waren ebenso umstritten. Er galt fortan als Sozialist.

Die tiefe sittliche Berechtigung des Hafen-Streiks wagt jetzt niemand mehr anzufechten; man anerkennt sie auch, indem man meine Darstellung (Braun’s Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Februar und Mai 1897), totschweigt, anstatt sie zu widerlegen. Die kläglichen Wohnungszustände, unter denen ganze Scharen der Hafenarbeiter leiden, waren auch früher bekannt; zu den unmittelbaren Ursachen des Streiks gehören sie nicht – wohl aber haben sie mitgewirkt, nachdem sie während der Cholera-Monate (1892) in aller Schwere empfunden waren, um die trübe, düstere Stimmung zu vermehren, die in den darauf folgenden Jahren, während die Arbeitchancen schlechter, der Verdienst geringer wurde, dieser gesamten Arbeiterschaft sich bemächtigte; aus dieser jahrelangen Stimmung ist es hauptsächlich zu erklären, daß im Jahre 1896, als das Geschäft, d. h. der Gewinn der Unternehmer und Zwischenunternehmer einen ungeheuren Aufschwung nahm, eine desperate Entschlossenheit in allen Kreisen rasch sich ausbreitete: „jetzt müssen wir eine dauernde Verbesserung unserer Lage erreichen!”

Ferdinand Tönnies: Hamburger Arbeiterwohnungen, in: Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, 5. Jg., Ausgabe vom 24. Juli 1897, S. 239.

Erst als Althoff 1908 verstarb, erhielt Tönnies eine Professur an der Kieler Universität. Diese gab er aber bereits 1916 wieder auf, um als freier Publizist zu leben. Er unterhielt enge Verbindungen zum 1914 in Kiel gegründeten Institut für Weltwirtschaft und dessen erstem Direktor Bernhard Harms.

Wenngleich kein Kriegsbegeisterter, begriff Tönnies den Ersten Weltkrieg als Bedrohung des deutschen Nationalstaats und verfasste von 1914 bis 1918 verschiedene propagandistische Studien und Artikel, teilweise in enger Abstimmung mit verschiedenen Ministerien. Politisch stand er seit den 1880er Jahren der Sozialdemokratie nahe. 1930 trat er der SPD bei, außerdem war er Mitglied des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Er war ein ausgezeichneter Marx-Kenner und entwickelte eine kapitalismuskritische Position, die auf Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit aus war, revolutionäre Prozesse oder gar Umstürze lehnte er ab. Tönnies verstand sich als Sozialreformer.

Ab den 1920er Jahren war Tönnies ein breit bekannter, öffentlicher Intellektueller und trat auch mit Zeitungsartikeln zu tagesaktuellen Ereignissen in der regionalen (Kieler Zeitung, Schleswig-Holsteinische Volkszeitung) und überregionalen Presse in Erscheinung. Er war international gut vernetzt, sprach u.a. auf Tagungen in Italien, den Vereinigten Staaten und England.

1921 erhielt er an der Kieler Universität einen Lehrauftrag für Soziologie. Tönnies publizistisches Schaffen umfasst mehr als 1000 Veröffentlichungen, ein großer Teil Besprechungen zu aktueller Literatur. Seine Themen reichen von Arbeiten in der Statistik, Soziographie, über Fragen der Sozialpsychologie und öffentlichen Meinung bis hin zu Monografien über Friedrich Schiller und Karl Marx. Er ist neben Max Weber und Georg Simmel einer der Wegbereiter der Soziologie als eigenständiger akademischer Disziplin. Ferner gehörte er zu den Mitbegründern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), die 1909 ins Leben gerufen wurde. Tönnies war ihr erster Vorsitzender, ab 1922 bis 1933 Präsident. Unter seiner Führung wurden sieben Soziologentage abgehalten, ein achter, der für 1933 in Kiel geplant war, wurde angesichts der politischen Entwicklungen abgesagt.

Tönnies engagierte sich publizistisch gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus, dem er kritisch gegenüberstand, in dessen Beurteilung er sich aber irrte, denn mitnichten strebte der Nationalsozialismus die Wiedereinführung der Monarchie an. 1933 entfernten die Nationalsozialisten ihn aus der Universität und er wurde als Präsident der DGS abgelöst. Auch seine Renten- und Pensionsbezüge wurden gekürzt. Tönnies blieb aber, wenngleich mit abnehmender Intensität, publizistisch tätig. 1935 erschien mit Geist der Neuzeit#6 seine letzte Monographie. Er starb am 9. April 1936 in Kiel und ist, gemeinsam mit seiner Frau, auf dem Parkfriedhof Eichhof begraben. Sein Tod wurde international breit zur Kenntnis genommen, es erschienen u.a. in den Vereinigten Staaten, Frankreich und im gesamten deutschsprachigen Raum Nachrufe und Todesanzeigen.

Sein umfangreicher Nachlass wird in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek aufbewahrt. Er besteht unter anderem aus Manuskripten, zahlreichen Briefwechseln, 30 Taschenkalendern und 137 Notizbüchern. #7 1956 wurde in Kiel die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft gegründet, die das geistige Erbe von Tönnies pflegt und seit 1998 die Gesamtausgabe seiner Schriften herausgibt.

28.11.22 Sebastian Klauke, Tatjana Trautmann

ANMERKUNGEN

1 Uwe Carstens: Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Eine Biographie, Bräist/Bredstedt 2013, S. 19. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle biographischen Angaben aus dieser Schrift.

2 Vgl. hierzu: Sebastian Klauke: Über Theodor Storm bei Ferdinand Tönnies, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft Band 71, 2022, S. 17-27. Zum publizierten Briefwechsel der beiden siehe die Edition von Dieter Lohmeier: Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tönnies, in: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag, Würzburg 2000, S. 91-127, hier S. 124.

3 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. 1880-1935 (Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Band 2), hrsg. v. Bettina Clausen und Dieter Haselbach, Berlin/Boston 2019.

4 Das Haus wurde im Zweiten Weltkrieg am 6. Juli 1944 zerstört, aber es erinnert an der Stelle ein Gedenkstein an Ferdinand Tönnies.

5 Alexander Wierzock: Ferdinand Tönnies (1855-1936). Soziologe und Ethiker, Würzburg 2022.

6 Vgl. Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit, in: Gesamtausgabe Band 22. 1932-1936. Geist der Neuzeit • Schriften • Rezensionen, hgg. v. Lars Clausen, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1998, S. 3-223.

7 Tatjana Trautmann: Forschungsbericht: Erschließung der Notizbücher von Ferdinand Tönnies (1855–1936), in: Zyklos. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Band 6. Springer, Wiesbaden 2022, S. 271–277, hier S. 271.