Rudolf Stibill

Stibill, Rudolf

Erzähler und Lyriker, Verfasser zahlreicher Rundfunk-Texte für Erwachsene und Kinder

Geboren in Graz am 30. Juli 1924
Gestorben in Ostenfeld bei Rendsburg am 30. Januar 1995

Rudolf Stibill wurde in seiner Geburtsstadt Graz unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg als junger, vom Nationalsozialismus unbelasteter Dichter schnell bekannt und galt als neue literarische Hoffnung. Obwohl er die letzten 40 Jahre in Schleswig-Holstein lebte, blieb er im Norden fast bis zum Schluss eher ein Geheimtipp. Von seinem ersten Lyrikband an, der Vox humana (1947, Neuauflage 1998), veröffentlichte er sechs Gedichtbände, den Erzählband Der Knabe und das Meer (1958) sowie die beiden autobiographischen Romane Stimmen des Ungewissen – Eine Jugend in Graz (1992) und Atemwaage – Kriegsende in Graz (1995). Der erste Band davon entstand, wie viele weitere Texte, zunächst als Auftragswerk des Österreichischen Rundfunks (ORF) und wurde vor Drucklegung dort gesendet. Nahezu alle Bücher erschienen in österreichischen Verlagen, denn Stibill trennte zeitlebens seine Existenz als Schrifsteller in Österreich von seinem Beruf als Lehrer für Deutsch und Kunstgeschichte in Rendsburg. Nur der Band mit Kindergedichten, Leute aus Sonnenstadt (1964, Neuauflage 1990),und der späte Gedicht-Zyklus La ville imaginaire (1994) erschienen zuletzt in Stuttgart. La ville imaginaire wird in einer Bühnenfassung von seinem Schüler, dem Schauspieler und Kabarettisten Hans Christian Hoth, von 1995 bis heute im deutschsprachigen Raum aufgeführt.

Stibills jahrzehntelanger Wohnort im Norden hat Spuren in seinem literarischen Werk hinterlassen, denen hier nachgegangen werden soll. So beginnt sein erster autobiographischer Roman in jenem Haus am „Kanalufer“ bei Rendsburg, in dem Stibill bis 1973 gewohnt hat:

Es ist ein Tag im Januar gewesen, ein Ostwindtag, ein Tag, so kalt, daß man glauben hat mögen, dem Zufrieren der Wasseroberflächen zusehen zu können, von Pfützen und Lachen, von der stehenden Breite des Flusses, von der immer neu von großen Schiffen durchfurchten des Kanals. Ich habe damals außerhalb der Stadt Rendsburg in einem kleinen Haus nah der Lotsenstation am Nord-Ostsee-Kanal gewohnt, von ihm nur durch eine Fahrstraße und einen Saumweg am unteren Rand der Böschung des Dammes, der sie trägt, getrennt. Und bin ich im Haus die enge Wendeltreppe hinuntergegangen, habe ich nach Westen hin auf nahezu gleicher Ebene den Spiegel der Eider gesehen, die weit mäandrierend und träge durch flaches Sand- und Moorland der Nordsee zufließt. Und habe ich dahin und dorthin geblickt, haben sich auch in mir an den Rändern des Bewußtseins Ahnungen der eigenen Vergangenheit zu Erinnerungen zu verfestigen begonnen.

Rudolf Stibill: Stimmen des Ungewissen - Eine Jugend in Graz. Graz/Wien/Köln 1992, S. 9.

Die beiden Wasserläufe des Kanals und der Eider werden zum Bild des Bewusstseinsstroms, aus dem die Erinnerungen an die Kindheit in Graz auftauchen. Der Ich-Erzähler imaginiert das eher ärmliche Viertel am Lendplatz in Graz, wo er mit seiner alleinerziehenden Mutter Maria Stibill in einer Einzimmerwohnung aufwuchs. Der Vater, Rudolf Pucsko, als Gymnasiallehrer einem großbürgerlichen Milieu entstammend, wird für seinen unehelichen Sohn ein wichtiges Vorbild. Die nationalsozialistischen Phrasen des Kindes in seiner Uniform des Deutschen Jungvolks kommentiert der Vater so eindeutig, dass er damit seinem Sohn die Augen öffnet für das, was etwa mit seinem jüdischen Mitschüler geschieht. Mit selbstkritischer Ironie distanziert sich der Autor von seinem kindlichen, braunen Gerede: „[…] da steh ich nun rechts unten in der Ecke, ein Pimpf.“ #1

Der junge Stibill musste zunächst als Kranführer im Arbeitsdienst tätig sein und wurde später aufgrund seines Untergewichts für wehrdienstuntauglich befunden. So hatte er vor Kriegsende das Glück, Deutsch und Kunstgeschichte studieren und sich mit literarischen Vorbildern wie Rilke beschäftigen zu dürfen. Es entstanden erste Gedichte, zunächst der literarischen Tradition folgend formvollendete Sonette, ja sogar ein Sonettenkranz. Mit knapp 20 Jahren, kurz vor dem frühen Tod der geliebten Mutter, schrieb er das Gedicht „Ahnung des Todes“. Dessen fließende Verse voll tiefer, dunkler Bilder, vermögen nicht nur die eigene Lebenssituation einzufangen, sondern auch die Zeitstimmung, die durch den Krieg vom Bewusstsein der Endlichkeit geprägt ist; „Es kommt der Abend, und ein stilles Roß an meiner Tür.../ es sieht mich an […]“ #2

Der etwas jüngere Schriftsteller Alfred Kolleritsch schreibt in seinem Vorwort zur Neuauflage der Vox humana, dass für ihn und seine Generationsgenossen Stibill nach dem Krieg „der erste neue Mensch der Stadt Graz gewesen ist. Das Gedicht 'Ahnung des Todes' lernten wir auswendig“ #3. In diesem Zitat wird deutlich, dass der junge Dichter Stibill in dieser Umbruchsituation nach dem Krieg für viele mit seiner Vox humana eine neue Orientierung zum „Menschlichen“ darstellte.

Stibill arbeitete am ORF als ständiger freier Mitarbeiter. Er förderte auch andere Autoren, so Christine Lavant. Als Lektor im Leykam-Verlag brachte er ihren Erzählband Baruscha mit heraus. Stibill wurde 1953 der Peter-Rosegger-Literaturpreis zuerkannt. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms entschloss er sich 1955, nach Norddeutschland überzusiedeln, um dort Lehrer zu werden. Warum?

Stibill, der sich in dieser Zeit eher zum Surrealismus hingezogen fühlte und dessen Texte teilweise dem Magischen Realismus zugeordnet werden können, sah die damals zunehmende Politisierung des Literaturbetriebs kritisch. Die für ihn problematischen Folgen davon bestätigten sich, als er 1956 delegiert wurde, Österreich bei der internationalen Biennale für Lyrik in Knokke-le-Zoute zu vertreten. Dort nahm er mit Befremden wahr, wie der ostdeutsche Lyriker Peter Huchel, mit dem er diese Tage im freundschaftlichen Gespräch verbrachte, von den westdeutschen Kollegen geschnitten wurde. Kalter Krieg auch hier.

Das Bedürfnis nach Menschenbegegnungen trieb Stibill an, als er sich entschloss, nicht eine leitende feste Stelle am ORF anzunehmen, sondern dem Ruf nach Rendsburg zu folgen, wo Lehrer an der dortigen Waldorfschule gesucht wurden. Wie intensiv er sich mit den Schicksalen seiner Schüler*innen beschäftigte, wird in dem Erzählband Der Knabe und das Meer (1958) deutlich. Die Titelerzählung verarbeitet das tragische Ereignis, bei dem ein zwölfjähriger Schüler in der Nordsee ertrank. Stibill beginnt diese Erzählung so:

Als ich kürzlich auf der Insel Nordstrand war – an einem stürmischen, wolkenverhangenen Tag im späten August – konnte ich lange unbemerkt einem etwa zwölfjährigen Knaben zuschauen, der – offenbar selbstvergessen und ungeachtet aller Gefahr – mit der ganzen gewaltigen, verfinsterten und tobenden See sein Spiel hatte, indem er sie, immer wieder mit kleinen, trippelnden Schritten vorlaufend, gleichsam verlockte, nach ihm zu greifen, ihr aber immer wieder, gewandt rückwärts schreitend, zu entweichen verstand, so daß ihre schönen, durchsichtigen Pranken jedesmal knapp vor ihm doch nur auf Sand schlugen und ihn, den Zierlichen vor der finsteren Unendlichkeit, aus der unwirklich und schattenhaft die Gehöfte der Halligen aufragten, nur sprühende Tropfen näßten, daß er mitten im Spiel bisweilen schimmernd auflachte.

Rudolf Stibill: Der Knabe und das Meer. Graz 1958, S. 7.

In einigen eindrucksvollen Naturschilderungen schlägt sich Stibills Faszination für die norddeutsche Landschaft nieder. Die Natur, auch die Tiere wie die in dieser Geschichte mehrfach auftauchende Sturmmöwe, sind mehr als malerische Kulisse, sie werden in Stibills Texten zu Sinnbildern. Die enge Verbindung der Menschen mit dem Meer wird nicht nur in jener ersten Geschichte thematisiert, sondern auch in einer weiteren desselben Bandes: Die Erzählung des Matrosen Jormer. Andere Prosa-Texte aus derselben Zeit wie Das Licht im Schilf (1958) wurden bislang nur im Rundfunk gesendet und blieben ungedruckt.

Stibills Lyrik begann, sich mit der Zeit zu ändern. Dies lässt sich ablesen an dem Lyrikband Markierungen des Lebens (1975),der in drei Teile gegliedert ist: Im ersten unter dem Obertitel Magische Jahre werden ältere Gedichte erneut abgedruckt. Im mittleren Teil unter dem Titel Leute aus Sonnenstadt versammeln sich Kindergedichte. Auch hier finden sich humorvolle Anklänge an den Norden, etwa in Käptn Krakabums Lied. Der letzte Teil, der deutlich von norddeutschen Elementen durchzogen ist, enthält neuere Gedichte unter dem Titel Sürtiker. Der „Sürtiker“ist ein surrealistischer Romantiker, eine Figur, die auf literarische Einflüsse anspielt und damit zugleich einen Bereich jenseits der rationalen Realität betritt. Außer dem Titelgedicht im letzten Teil der Markierungen hat Stibill auch einige Prosatexte mit dieser Sürtiker-Figur verfasst, die er für den Schauspieler Hans Christian Hoth zu einer Bühnenfassung umarbeitete.

Stibill verlässt in seinen neueren Gedichten die traditionellen Formen, die Sprache wird brüchiger, tastender, suchender. An die Stelle der Reime treten eindringliche Wiederholungen: Anaphern und Epiphern in dem Gedicht Lübecker Totentanz:

III

[…] Gestern zum Fleet, zur knöchernen Stunde,
gestern geh und geh weiter, denn schön,
schön ist die Stadt, die da gestern ...

VI

Dies ist das letzte: die Amsel am Abend
und Lübeck mit aufgerissenen Straßen voll Sand,
dies kleine Stück Leben,
dies kleine Stück Nahrung
für wann.

Rudolf Stibill: Markierungen des Lebens. Graz/Wien/Köln 1975, S. 69ff., Z. 14ff.

Der Titel des Gedichtes spielt an auf den mittelalterlichen Fries in der St. Marienkirche zu Lübeck, der im zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Beim imaginären Gang durch die Stadt Lübeck, auf dem wir dem lyrischen Ich folgen, tauchen verschiedene Werke der Kunst auf: so eine Daphne-Skulptur von Renée Sintenis im Innenhof des Behnhauses, von der es heißt, sie habe „Augenpaare mit Libellenflügeln“ (ebd. S. 70, Z. 23). Bestimmte Werke der Architektur und bildenden Kunst suchte Stibill regelmäßig auf und bezeichnete sie als seine „Freunde“. Sein Werk ist durchzogen von Anspielungen auf Literatur und Kunst.

1968 heiratete Rudolf Stibill Elisabeth Valett, die Tochter des Hamburger Dichters Dirks Paulun. Weitere Sürtiker-Texteentstanden in dieser Zeit. Stibills erste Frau starb aber bereits fünf Jahre später. Kurz davor war Christine Lavant gestorben, mit der er auch nach seinem Weggang aus Österreich befreundet geblieben war. Lavant widmet er ein Gedicht in seinem Zyklus Erinnerungen. Durch den Tod dieser beiden nahen Menschen wurde eine neue Schaffensphase ausgelöst, die zur Veröffentlichung des Bandes Markierungen des Lebens (1975) führte.

Später, als Stibill zwischen 1988 und 1993 an seinen autobiographischen Romanen arbeitete, stand er im freundschaftlich-literarischen Gespräch mit dem Maler und Schrifsteller Gerrit Bekker. Bekker, der damals ebenso in Rendsburg lebte und Stibill in Ostenfeld besuchte, arbeitete zeitgleich an dem autobiographisch geprägten Roman Farbe der Schatten (1993). Die beiden Autoren tauschten sich über ihre Roman-Manuskripte aus.

Nach Stibills Tod 1995 rief Gisela Stibill, seine zweite Frau und Witwe, die Rudolf Stibill Gesellschaft ins Leben. Sein literarischer Nachlass befindet sich im Brenner-Archiv Innsbruck.

21.11.2021 Anja Ross

ANMERKUNGEN

1 Rudolf Stibill: Stimmen des Ungewissen. Graz/Wien/Köln 1992, S. 81.

2 Rudolf Stibill: Vox humana. Graz/Salzburg/Wien 1947, S. 57, Z. 1ff.

3 Alfred Kolleritsch im Vorwort der Vox humana, Auflage 1998, S. 6. Zum schnellen Bekanntwerden Stibills nach dem Krieg auch Anja Ross: 'Zwischen zwei Zeitströmen'. Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in den autobiographischen Büchern von Rudolf Stibill (Diss.), 2003, S. 15ff.