Christian Saalberg

Saalberg, Christian; geboren als Christian Udo Rusche

Produktiver surrealistischer Dichter abseits des Literaturbetriebs

Geboren in Hirschberg/Schlesien am 10. Dezember 1926
Gestorben in Kronshagen am 25. Mai 2006

Christian Saalberg, der immer wieder Gast im Kieler Literaturhaus im Schwanenweg war, galt zu Lebzeiten als Lyriker, der vor allem Insidern der Szene bekannt war. Trotz mehrfacher Auszeichnungen wie dem Eichendorff-Preis und der Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis „ist Saalberg fast bis zuletzt ein Unbekannter geblieben, der in den Außenbezirken der literarischen Öffentlichkeit schrieb“, so der Schriftsteller und Übersetzer Jürgen Brôcan in seinem Nachruf auf Saalberg (Neue Zürcher Zeitung, 30. Mai 2006).

Saalberg, der am 10. Dezember 1926 im niederschlesischen Jelenia Góra (Hirschberg) geboren wurde, studierte Jura in Heidelberg und Kiel und arbeitete im bürgerlichen Leben bis 1992 als Rechtsanwalt und Notar unter seinem Geburtsnamen Christian Rusche. Das Pseudonym Saalberg leitet sich von dem gleichnamigen Ort (heute: Zachełmie) im Riesengebirge her, in dem er als Kind die Sommerferien verbrachte.

Zwischen 1963 und 2005 hat Christian Saalberg 23 Gedichtbände, zuletzt Offenes Gewässer (2005, zuKlampen!-Verlag, Springe) veröffentlicht. Im Dezember 2006 erschien der posthume Band An diesem Todestag im Mai im Lyrik-Taschenbuch-Programm des Rimbaud Verlags, Aachen. 2012 erschien, ebenfalls im Rimbaud Verlag, Die unsichtbare Zeit. Frühe Gedichte 1963-1985 (Angaben laut Webseite www.christian-saalberg.de). Zu Lebzeiten erschienen zudem Gedichte Saalbergs in Zeitschriften (u.a. „akzente“, „Sinn und Form“, „ndl“) und Anthologien, darunter auch in dem von Heinrich Detering bei Reclam herausgegebenen Buch der deutschen Gedichte (Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. 4., durchges. und erg. Auflage, 2 Bde.).

Einer breiteren literarischen Öffentlichkeit wurde Saalbergs Oeuvre durch eine umfangreiche Gedichtauswahl zugänglich gemacht, die im August 2019 im Verlag Schöffling & Co. erschien: In der dritten Minute der Morgenröte. Den Auswahlband haben Saalbergs Tochter Viola Rusche und der in Hamburg lebende Schriftsteller Mirko Bonné gemeinsam besorgt, das Nachwort hat Jürgen Brôcan geschrieben, der mit Michael Krüger, Andreas Altmann und dem in Kiel lebenden Lyriker Arne Rautenberg zu den Mitstreitern und Förderern Christian Saalbergs gehörte, wie es in der editorischen Notiz des Herausgeber-Duos heißt.

Christian Saalberg war ein stiller, feiner, unaufdringlicher Mensch, der sehr genau verfolgte, was in der Welt und auch in der Welt der Literatur vor sich ging. Um sich und sein Werk machte er allerdings kein Aufheben, er zog es vor, eher im Verborgenen zu arbeiten, in seinem Kronshagener Arbeitszimmer, in dem er von seinen Büchern umgeben war. Doch seine Dichtung, die in den Anfängen sehr stark durch die poetischen Konzepte des Surrealismus geprägt war, ist nicht hermetisch, schließt sich nicht gegen die Welt ab, sondern bezieht ihre Initialzündung aus Literatur, Kunst und Geschichte, wie Brôcan in seinem essayistischen Nachwort zum Auswahlband schreibt.

Dass Saalberg abseits vom Literaturbetrieb stand, hat es ihm ermöglicht, seine Dichtung konsequent und ohne zeitgeistige Zugeständnisse weiterzuentwickeln. Von der klaren Gliederung in (gereimte) Strophen und der Reihenmetaphorik der frühen Gedichte löst er sich allmählich, entwickelt einen lakonischen Stil und setzt in der mittleren Werkphase verstärkt Mittel wie den Zeilenbruch ein. An die Stelle gebundener Rede treten zunehmend Elemente der Prosadichtung. Das kulminiert in Versen wie:

Mit der Dichtkunst
ist das so:

Die Wörter wollen
aufgeschrieben werden,
weiter nichts.

Gott weiß, warum.

aus: Hier wohnt keiner, 2003.

Viola Rusche und Mirko Bonné haben das Œuvre für den Auswahlband in drei Phasen gegliedert: von 1963 bis 1987, von 1989 bis 1995 und von 1997 bis 2006. Die Chronologie der erschienenen Gedichtbände wurde beibehalten, die Reihenfolge der Gedichte innerhalb der Bände gelegentlich verändert. Den Abschluss bilden ein Gedicht und ein dreiteiliger Zyklus (Komm, großer Wind, wehe) aus dem postum erschienenen Band (An diesem schönen Todestag im Mai), der mit folgenden Versen schließt:

Mein Tod fängt an, mir zu gefallen.
Ich habe lange geschlafen, auf einmal war er da.
Es ist wie ein Märchen.

Mit dem Tod setzen sich auch weitere Gedichte Saalbergs auseinander, so auch das 2003 erschienene und zudem in Heinrich Deterings Anthologie aufgenommene Gedicht Hör zu Tod, das lakonischen Witz verrät:

Hör zu, Tod. Ich habe doch keine
Probleme, im Gegensatz zu dir.

Niemand vermißt dich, niemand
beweint dich, alles läuft von allein

auch ohne dich. Also laß das. Ich gebe
dir den Sarg zurück. Mach dich lang.

Das titelgebende Gedicht des Auswahlbands (In der dritten Minute der Morgenröte), 1997 erstmals veröffentlicht, entstand zu Beginn der dritten Werkphase. Es zeigt Saalbergs Technik, Landschaftseindrücke mit Malerei, Mythologie und Metaphysik zu amalgamieren. Wieder ist es der Gedanke an den Tod, der hinter den Zeilen Regie führt:

In der dritten Minute der Morgenröte sah ich
   für einen Augenblick den Farbton des Windes, der sich
Mitten durch die Landschaft zog wie ein Fluß.

Ich werde ihn einem Maler vermachen, vielleicht Hokusai,
   der ihn befreit von allem Astwerk auf seiner
Pinselspitze versammeln wird.

Auf dem seidenen Fuß wird es ihm leichter fallen, die
   Linie zu überqueren, das vollkommene Vakuum, das
Diese Welt von jener trennt.

Denn das Draußen ist nicht die Natur, habe ich mir
   sagen lassen, auch nicht das Halbdunkel in den
Stuben der Väter.

Wenn unser Leben im Dunkel der Erdenschale versinkt,
   wird der Fluß ein Weg sein, der aus dem Jenseits
Nach uns greift.

aus: In der dritten Minute der Morgenröte, Schöffling.

Wie Jürgen Brôcan in seinem Nachwort zum Auswahlband schreibt, schöpft Saalberg aus der surrealistischen Tradition, ohne sie bloß zu imitieren. „Es hallt ein Surrealismus nach, der auf kreative, eigenständige Weise weitergeführt wird und nicht im Epigonentum verharrt. … Aus der Melange von surrealistischer Reihenmetapher, romantischem Vokabular, zahlreichen Allusionen und einmontierten Zitaten entsteht eine unverwechselbare Stimme.“

5.12.2021 Michael Roesler-Graichen