Arne Rautenberg

Rautenberg, Arne

Schriftsteller und Künstler: Freiheit der Idee in vielerlei Formen

Geboren in Kiel am 10. Oktober 1967

Lebt in Kiel

dreierlei rauschen inmitten von kiel

dreierlei rauschen liegt unter der stadt
das der knatternden kaiserflaggen
das der erwartung nach flakattacken
das der gesunkenen seemannsjacken

dreierlei rauschen liegt in dieser stadt
das der fischer und pfuscher und schnacker
das der zischenden weiden im acker
das der rasselnden abrissbagger

dreierlei rauschen liegt über der stadt
das der diesel vor den kanalanlagen
das der sturmböen in rasenden klagen
das der aeroplane nach kopenhagen

Aus dem Band: nulluhrnull. Berlin: Horlemann 2017, S. 55.

Der Kieler Arne Rautenberg schreibt Gedichte, darunter Einwort-, Erzähl- und Lautgedichte, Konkrete Poesie, Haikus und Kinderlyrik; zugleich hat er sich aber auch als bildender Künstler ein eigenständiges Werk erarbeitet. Diese Vielseitigkeit ist Programm: „Wer versucht, die Kunst Arne Rautenbergs auf allgemeine Begriffe zu bringen, liegt eigentlich schon immer falsch. Zu breit ist das Spektrum seiner textlichen, bildlichen, installierenden und performativen Ausdrucksformen, zu überreich der Katalog seiner Ideen und Motive.“ #1

Arne Rautenberg wurde 1967 in Kiel geboren. Er verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Kabul (Afghanistan), studierte von 1994–99 Kunstgeschichte, Neuere deutsche Literatur und Volkskunde in Kiel, wo er sich 2000 als freier Schriftsteller selbständig machte. Sein erster Gedichtband dislimitation kam 1995 in einem US-amerikanischen Kleinverlag heraus, ausgestattet mit einem Vorwort des Schriftstellers Christopher Ecker, mit dem Rautenberg eine lange Freundschaft verbindet. Seit 1996, in dem Rautenberg Neondämmerlicht vorlegte, erscheinen regelmäßig Gedichtbände; 2010 kommt mit der wind lässt tausend hütchen fliegen ein erster und sehr erfolgreicher Band mit Kinderlyrik heraus. Viele seiner Gedichte sind seither in Schulbücher aufgenommen worden.

Rautenbergs Werk ist vielgestaltig und damit „frei von Moden und Ideologien, und dieses Freisein führt in seiner Lyrik zu einer Vielfalt von Formen und Tonfällen“. Ihm ist „das Gedicht als Einzelkunstwerk“ wichtiger als die „kalkulierte Wiedererkennbarkeit“.#2 Und: „Wie viele gute Autoren hat Rautenberg keine Botschaft, aber er hat auch – und hier unterscheidet er sich von vielen Lyrikern seiner Generation – kein rigides System, in das er seine Gedichte einordnet.“#3

Dem stimmt Rautenberg zu, wenn er über sich selber sagt: „Meine beiden künstlerischen Credos lauten: Mach das Kleine groß – und bring Dinge zusammen, die nicht zusammengehören. Es gibt ohnehin keinen anderen Weg, als Ausschnitte der Wirklichkeit miteinander zu verbinden. Das Prinzip der Collage gilt – immer heißt es: leimen, leimen, leimen. Realitätsbezug und Kunstprodukt sind sich da erstaunlich nah."#4 Und:

Verschrieben habe ich mich unterschiedlichen Gangarten der Poesie. Ich kreise ums große Ganze, das diese Welt schon immer scheitern ließ – ebenso wie ums Unscheinbare, das sie immer schon zusammenhielt. Ich gehe in mir spazieren – und manchmal hebe ich ab. Damit ich für Höhenflüge und Abstürze genug Kraft habe, lebe ich ein kleinbürgerliches Leben, das ich genau so möchte und zu dem ich stehe. Allerdings muss ich das Konventionelle nicht auch noch in der Kunst haben: Hier gilt es mir, Abenteurer zu sein, das Porzellan durch die Luft fliegen zu lassen, hier bin ich ein Spielender, dessen poetische Vision es ist, dass alles möglich bleibt.

Rautenberg ist daher nicht leicht festzulegen. Viele seiner Gedichte sind von einer luftigen Unbekümmertheit geprägt, andere rücken die Verlorenheit des Ich und den möglichen Verfall der Zivilisation ins Bild. Heinrich Detering äußert dazu anläßlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Kiel:

Denn schließlich hat er auch Gedichte geschrieben über intime häusliche Ereignisse, die sich nicht im Kinder-, sondern eher im Schlafzimmer zutragen; er hat Ausdrucksformen lyrischer Trauerarbeit erprobt und über das Altern der Eltern gedichtet, über scheiternde Telefongespräche und den Unterschied zwischen Biertrinken und Weintrinken.

Heinrich Detering: Ein Romantiker in der Kinderstadt. Lobrede auf Arne Rautenberg zum Kieler Kulturpreis. Unpubl. Ms., Kiel 2020.

Hans Hartung hat zur Vielfältigkeit von Rautenbergs Themen folgendes zu sagen: „Rautenbergs Gedichte sind lyrische Mobiles, anmutige kleine Kunstmaschinen, die sich im Wind drehen. Es muss nicht der Atem großer Inspiration sein, der sie bewegt. Manchmal genügt es, wenn der Autor die Lippen spitzt und pustet.“#5

Doch auch die Form spielt eine Rolle und erweist sich als nicht weniger vielseitig als der Inhalt. Rautenberg verwendet gern visuelle Strategien, die von der gängigen Typografie abweichen. „Das Zeichenrepertoire wird doppelt genutzt: semantisch und visuell, bildlich – über die Verteilung der Zeichen auf der weißen Fläche. Auch dies ist eine Technik, die Arne Rautenberg häufig nutzt und die ihn spielend vertraut mit Traditionen vom Barock bis zur Konkreten Poesie zeigt: Das kann durch die noch erkennbare Nachbildung eines Gegenstandes mit den Buchstaben geschehen (also noch erkennbar vom Figurengedicht kommend) oder – häufiger – durch eine grafische Versinnbildlichung.“#6

Zu den Konstanten gehört bei Rautenberg die Naturbeschreibung. Gerade die Ostsee kommt als persönlicher „Sehnsuchtsraum“ immer wieder ins Bild, wobei der Blick durchaus differenziert ausfällt. „Seine Sicht der Natur lässt sich in drei widersprüchliche und häufig ineinander verschränkte Bereiche aufteilen: Natur ist ihm mal Erfahrungsraum, mal Störung und mal Erschütterung." #7 In Rautenbergs Gedicht kiel heißt es durchaus ambivalent:

beim blick auf den weit geöffneten wässrigen bogen
ziehn weiße segel reißzahngleich durchs himmel
fleisch die möwen fern um jeden schrei betrogen
ziehn aus dem blick sind abgebogen wellengewimmel
mikrotosen in den ohren ohne nachdruck ohne spuren
im kopf ein rauschen mantragleiches vorwärtstouren
wann kommt das silber der ostsee in riesigen schwärmen
wann hat das wasser die wärme hineinzusteigen
wann dröhnt infernalisch ein signal in gedärmen
wann verschwinden die fähren in eisigem schweigen

Arne Rautenberg: kiel. In: gebrochene naturen. Gedichte. Frankfurt am Main: luxbooks 2009, S. 71.

Doch Rautenberg ist sich bewusst, dass es „keine eigentliche Natur hinter der Sprache und hinter den Bildern gibt“, weshalb er den Anspruch entwickelt, „Sprachbewegungen und Bildwelten jenseits aufgebrauchter Traditionen und sprachlicher Konventionen zu finden.“#8 Arne Rautenberg hat mit zahlreichen Künstlern zusammengearbeitet, die seine Bücher illustriert haben, darunter mit Jonathan Meese, Nadia Budde, Karin Stangl und dem Kieler Jens Rassmus. Rautenbergs eigene bildkünstlerische Arbeiten – vorwiegend Collagen und großflächige Schriftinstallationen – werden bereits seit 1990 ausgestellt, u.a. auf Schloss Gottorf, in der Stadtgalerie Kiel oder in der Overbeck-Gesellschaft Lübeck, aber auch in Basel, Klagenfurt und Wien. Für seine Arbeit ist Rautenberg mit zahlreichen Stipendien unterstützt worden; zu den vielen Auszeichnungen, die er erhalten hat, gehören die Liliencron-Dozentur für Lyrik (2013), der Josef-Guggenmos-Preis (2016), der Kulturpreis der Stadt Kiel (2020) und ein Stipendium der Villa Massimo in Rom (2022).

Von 2006 bis 2020 war Rautenberg Lehrbeauftragter an der Muthesius Kunsthochschule Kiel.

Er wurde 2017 in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt und 2018 in die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Neben eigenen Publikationen ist Rautenberg in zahlreichen Anthologien, Jahrbüchern und Zeitschriften vertreten; einen Überblick vermittelt seine fortlaufend aktualisierte Homepage.

3.6.2021Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Kai Sina: Blumenspiele. Über den Naturdichter Arne Rautenberg. In: Littera Borealis. Edition zur zeitgenössischen Literatur im Norden. Ausgabe 13: Arne Rautenberg, hg. v. der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein, dem Nordkolleg Rendsburg und dem Literaturhaus Schleswig-Holstein, Kiel 2013, S. 19–21, hier: S. 19.

2 Christopher Ecker: Von der fröhlichen Zertrümmerung der Erwartung. Gedanken zu Arne Rautenbergs Lyrik. In: Littera Borealis. Edition zur zeitgenössischen Literatur im Norden. Ausgabe 13: Arne Rautenberg, hg. v. der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein, dem Nordkolleg Rendsburg und dem Literaturhaus Schleswig-Holstein, Kiel 2013, S. 4–12, hier: S. 4.

3 Ebd., S. 6.

4 Arne Rautenbergs Selbstvorstellung in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, www.deutscheakademie.de/de/akademie/mitglieder/arne-rautenberg/selbstvorstellung.

5 Hans Hartung: Arne Rautenberg. In: FAZ vom 26. November 2009.

6 Holger Pils: Das große Gespräch. Über Arne Rautenberg. In: FLY. Arne Rautenberg betextet Bilder der Sammlung, hg. v. d. Städtischen Galerie Delmenhorst, Kiel 2000, S. 264–269, hier S. 266.

7 Ecker: Von der fröhlichen Zertrümmerung der Erwartung. Wie Anm. 2, S. 8.

8 Kai Sina: Blumenspiele. Wie Anm. 1, S. 21.