Henning Boëtius

Boëtius, Henning; Pseudonym: Uwe Bastiansen.

Sprachgewaltiger Romancier mit Herz für literarische Außenseiter*Innen

Geboren in Langen (Hessen) am 11. Mai 1939
Gestorben am 14. März 2022

Als Henning Boëtius  am 14. März 2022 im Alter von 82 Jahren starb, veröffentlichte sein langjähriger Verleger Georg Reuchlein einen Nachruf, in dem er die außergewöhnliche Bandbreite des Verstorbenen würdigte:

Er war ein Universaltalent, Goldschmied, begnadeter (Blues-)Musiker und Autor zugleich, und ein Universalgelehrter, der in der Literatur, Kulturgeschichte und Philosophie ebenso zuhause war wie in der Mathematik und den Naturwissenschaften.

In der Tat war diese Vielseitigkeit für Boëtius Programm, sowohl mit Blick auf sein Leben wie auch für seine Literatur. In seinem monumentalen, autobiografisch geprägten Roman Der Insulaner spricht die Hauptfigur von „einer Art Schizophrenie der Lebensentwürfe“ und von ihrer „Unfähigkeit, mich ganz und gar für einen bestimmten Weg zu entscheiden.“ #1 Dieser Unwille, sich festzulegen, den  Boëtius literarisch so produktiv gemacht hat, hat gleichzeitig sein Leben nicht erleichtert: Seine Biografie ist voller schmerzhafter Brüche, was wiederum Spuren in seinem Werk hinterlassen hat.

Eine erste abgebrochene Route in seinem Lebensweg führt in die Wissenschaft: Nach dem Abitur studierte der auf Föhr und in Rendsburg aufgewachsene Boëtius Germanistik und promovierte mit einer 1967 erschienenen Dissertation über Hans Henny Jahnn – schon hier zeigt sich ein Faible für literarische Außenseiter, dem wir in seinem Leben und Werk noch wiederholt begegnen werden. Nach der Promotion war er im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt an der dort erarbeiteten Brentano-Werkausgabe beteiligt, beschäftigte sich wissenschaftlich außerdem mit der Aufklärung und gab die Werke einiger Schriftsteller mit Schleswig-Holstein-Bezug heraus, namentlich Johann Georg Morhof #2 und Friedrich Gottlieb Klopstock. #3 Eine Universitätskarriere machte Boëtius dennoch nicht – der Freiheitsdrang des unangepassten Einzelgängers war zu groß, wie sein Nachrufschreiber Reuchlein meint, auch wenn die Abkehr von der Wissenschaft zunächst ein unstetes, gefährliches Leben bedeutete und ihn zeitweise in die Wohnungslosigkeit trieb. In seiner betont unakademischen Brentano-Ausgabe Der andere Brentano macht Boëtius einige Jahre später deutlich, was ihn an der Literaturwissenschaft stört: Die „völlig humorlose Bürokratisierung“ des schriftstellerischen Werks durch die „langweilige, reaktionäre und ängstliche“ Philologie führe dazu, dass die Texte sich Leser*Innen von der Literatur abwendeten: „an der Leiche“ eines einst lebendigen Werks „zu stehen, bereitet wenig Freude.“ #4 Demgegenüber will Boëtius einen freudigen, lebendigen, engagierten und dabei auch respekt- und distanzlosen Umgang mit Literatur, der die Einweisung ins „Niemandsland des Wahren, Schönen und Guten“ möglichst vermeidet. #5

Zu diesem Zeitpunkt, 1985, hatte sich der einstmalige Wissenschaftler bereits „u. a. als Musiker, Hausmeister, Maler u. Goldschmied“ versucht, #6 aber auch erste schriftstellerische Arbeiten vorgelegt: 1981 erschien der erste Band einer später zur Trilogie ausgewachsenen Geschichte vom Steintroll Minigoll – ein Werk, das nach programmatischer Selbstauskunft des Autors die üblichen Kategorien des Buchmarkts sprengen soll:

Wer dieses windige Buch
für ein Kinderbuch hält,
soll an der obersten Rahnock
der „Hoffnung“ baumeln,
denn er versteht nichts von Erwachsenen.
Wer aber dieses windige Buch
für ein Erwachsenenbuch hält,
soll kielgeholt werden
über die ganze Länge der „Hoffnung“,
denn er versteht nichts von Kindern.

Henning Boëtius: Troll Minigoll von Trollba. Darmstadt: Stylus 1981. Zitiert nach H.B.: Kleiner Reiseführer durch mein Werk. In: Signaturen 1: Henning Boëtius. Hrsg. vom Literaturhaus Schleswig-Holstein als Ehrengabe zu seinem 80. Geburtstag. Eutin: Lumpeter & Lasel 2019, S. 83-204, hier S. 83.

Um solche festgefahrenen Kategorien wird sich Boëtius auch in Zukunft kaum kümmern – auf die Troll-Geschichte folgen ein Lyrikband (Selbstgedichte, 1986) sowie – unter dem Pseudonym Uwe Bastiansen – ein Sachbuch über Radioaktivität und die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. 1985 legt er mit Der verlorene Lenz die erste seiner Romanbiographien von überwiegend radikalen und unangepassten Schriftstellern (hier J.M.R. Lenz) vor; eine gelehrte und gleichzeitig völlig unakademische Textsorte, auf die er später immer wieder zurückkommt: 1987 erscheint unter dem Titel Schönheit der Verwilderung, der auch als Motto für sein Gesamtwerk dienen könnte, die Lebensgeschichte des zwischen Barock und Aufklärung stehenden verkannten Poeten Johann Christian Günther, 1989 Der Gnom über Georg Christoph Lichtenberg, 1994 Schwanenlied über Clemens Brentano, 1995 Ich ist ein anderer über Arthur Rimbaud. 1998 legt er mit Tod in Weimar eine Novelle über Goethes letzte Tage vor, und 2002 erhält Heinrich von Kleist in Tod am Wannsee die gleiche Behandlung – beide Texte erschienen im Merlin-Verlag mit Illustration von Johannes Grützke. Der weiße Abgrund schließlich, 2020 veröffentlicht, beschäftigt sich mit Heinrich Heine, und zwar erneut aus der Perspektive der letzten Lebensmonate.

Neben diesen literaturhistorischen Romanen ist eine weitere Werkgruppe in Boëtius umfangreicher Veröffentlichungsliste leicht identifiziert: 1992 erschien mit Joiken der erste seiner Kriminalromane um den niederländischen Polizisten Piet Hieronymus, und bis zu seinem Tod hat der Autor die Reihe immer weiter fortgesetzt, zuletzt mit dem siebten Band Das chinesische Zimmer, der wenige Wochen nach dem Tod des Autors posthum erschien. Wer die beliebten Romane liest, wird schnell feststellen, dass Boëtius auch den Kriminalroman durchaus unorthodox auffasst und um sämtliche Klischees einen weiten Bogen macht. Dass Hieronymus bei der niederländischen Polizei dafür zuständig ist, Fälle unter Beteiligung von Niederländer*Innen im Ausland aufzuklären, gibt seinem Autor die Gelegenheit, den Ermittler in verschiedenste Weltgegenden zu schicken, und man merkt den Texten seine Freude darüber und generell seine Experimentierlust an.

Nachdem er sich derart in unterschiedlichsten Textsorten erprobt hatte, ohne jemals in eine wie auch immer geartete literarische Routine zu verfallen, wandte sich Boëtius im neuen Jahrtausend einem weiteren Gegenstand zu: der eigenen Familiengeschichte. Diese hatte es durchaus in sich: Sein Vater, Eduard Boëtius, war Besatzungsmitglied des Zeppelins „Hindenburg“ und überlebte am 6. Mai 1937 dessen Absturz. Henning Boëtius, der wegen der schwierigen Beziehung zum Vater lange gezögert hatte, dieses Material literarisch aufzugreifen, legte schließlich 2000 den Roman Phönix aus Asche vor, der die Geschichte literarisierte und verfremdete und genau aus dieser Spannung zwischen Fiktion und Realität seine Faszination gewann. Dem Buch war ein großer Erfolg beschieden; es wurde in zahlreiche Sprache übersetzt und sollte gar von Hollywood mit Leonardo di Caprio in der Hauptrolle verfilmt werden, was sich schließlich aber zerschlug.

In Phönix aus Asche finden wir auch Boëtius‘ erste literarische Auseinandersetzung mit der Insel Föhr, dem Heimatort seines Vaters, wo auch der Sohn prägende Jahre verbrachte. Sie und das dort allgegenwärtige Meer werden den Leser*Innen zunächst aus der Perspektive eines Ortsfremden nahegebracht, und zwar als intensive, alle Sinne umgreifende Erfahrung fernab touristischer Klischees:

Plötzlich hörte Olsen ein Geräusch. Das gleichmäßige Atmen eines Schläfers durch die Zimmerwand, die nur aus dünnen Brettern bestand. Ein tiefes Röcheln, gefolgt von einem hellen Zischen, als würde der Schläfer die verbrauchte Luft heftig aus den Nasenlöchern stoßen. Es dauerte eine Weile, bis Olsen begriff, dass es nichts anderes war als das Meer, was er hörte. Der tiefe Ton kam aus den gläsernen Orgelpfeifen brechender Wellen. Der hohe Klang entstand, wenn das zurückflutende Wasser Geröll mitnahm und in den Bauch der nächsten Woge riss. Olsen schloss die Augen, sah das Meer, trieb in ihm, ertrank wieder und wieder, tauchte wieder und wieder auf.

Henning Boëtius: Phönix aus Asche. Roman. Fünfte Auflage, München: BTB 2005, S. 41f.

Als Gegenstück zum Phönix aus Asche kann der 2006 erschienene Roman Der Strandläufer gesehen werden: Hier wird vor allem die – erneut fiktionalisierte – Mutter des Autors in den Blick genommen, und auch die Figur des Sohns – also Boëtius selbst – tritt mehr in den Vordergrund als im Vorgängerroman.

Ihren monumentalen Abschluss findet Boëtius‘ „Trilogie der Erinnerung“ dann 2017 mit dem umfangreichen, bereits erwähnten Roman Der Insulaner. Hier stehen eindeutig der Autor selbst und seine Jugendjahre im Mittelpunkt, aber es handelt sich nicht um eine klassische Autobiografie: Zum einen ist die erzählte Geschichte erneut fiktional verfremdet, zum anderen erfolgen die Rückblicke im Rahmen einer ausgeklügelten Erzählkonstruktion und sind eigentlich Träume des für eine OP anästhesierten Protagonisten, der mit seinem Autor freilich große Ähnlichkeit hat. Auf den fast tausend Seiten des Romans erhält Föhr erneut ausgiebig Raum, und die Kindheit, die der Erzähler dort verbringt, schafft den psychologischen Rahmen für seine manchmal barock wirkenden Texte:

Ich lief am Strand entlang und sammelte alle möglichen Wunderdinge, die dort lagen, rote, gelbe, blaue, weiße Muschelschalen, ausgeblichene Krebsscheren, Möwenfedern, Quallen, kleine Schwämme, die Eiergelege von Wellhornschnecken, die Eikapseln von Katzenhaien, schwarze ledrige Gehäuse mit langen spitzen Ecken, rostige Niveadosen, abgebrochene Kämme, Steine, aus denen man Funken schlagen konnte, rostbraune Steine, Hexenschüsseln genannt, in deren Innerem gelbe Kerne waren, wenn man sie aufschlug, weiße, längliche, zerbrechliche Gebilde, die Skelette von Tintenfischen, die man Kanarienvögeln in die Käfige gab.

Henning Boëtius: Der Insulaner. Roman. München: BTB 2017, S. 228.

In diesem Roman erhält auch Rendsburg, wo Boëtius die zweite Hälfte seiner Kindheit verbrachte, seinen Raum, wenngleich die Übersiedlung in die Stadt dem Erzähler zunächst nur als Verlust erscheint:

Hier gab es keinen Strand, kein Watt, keinen Flutsaum. Ich lebte nicht mehr auf einer Scheibe mit einem Rand, sondern auf einer Kugel, auf der bekanntlich keine Grenzen existieren. Am schlimmsten aber war, dass es auch keinen echten Horizont mehr gab. Der Horizont, der die Insel kreisförmig umgab, glich dem Rand eines großen Spiegels, der auf dem Rücken lag und in dem sich Wolken, Möwen und Sterne betrachten konnten. Dieser Spiegel war die See. Hier aber gab es keinen Spiegel. Vorbei war es mit der Weite des Meeres, der Freiheit der Blicke. Überall schoben sich Häuserfassaden aus dunkelrotem Klinker ins Gesichtsfeld.

Henning Boëtius: Der Insulaner. Roman. München: BTB 2017, S. 228.

Der Insulaner trägt seinen Titel somit zu Recht, und man ist versucht, diesen auch für das Gesamtwerk von Henning Boëtius gelten zu lassen: Aus der Besonderheit der Inselperspektive, der Außenseiterposition, in die sie den Autor zwingt, aber auch aus den im Übermaß zu findenden „Wunderdingen“ entwickelt er seine eigene Poetik.

8.5.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Henning Boëtius: Der Insulaner. Roman. München: btb 2017, S. 90.

2 Johann Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. Hrsg. v. Henning Boëtius. Bad Homburg u.a.: Gehlen 1969.

3 Friedrich Gottlieb Klopstock. Der Tod Adams. Ein Trauerspiel. Hrsg. v. Henning Boëtius. Stuttgart: Reclam 1973.

4 Henning Boëtius: Vorwort: Brentano und die Philologen. In: Der andere Brentano. Ausgewählt, transkribiert, eingeleitet und kommentiert von Henning Boëtius. Frankfurt am Main: Eichborn 1985. S. 8f.

5 Ebd., S. 16.

6 Christine Henschel: Art. „Boëtius, Henning“. In: Killy Literaturlexikon – Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Berlin u.a. 2012.