Jan Wagner

Wagner, Jan

Pseudonym(e): Anton Brand; Theodor Vischhaupt; Philip Miller.

Geboren in Hamburg am 18. Oktober 1971.

Jan Wagner ist nicht nur Dichter, sondern auch literarischer Übersetzer und nicht zuletzt einer der eloquentesten öffentlichen Anwälte der Poesie im Land, der in zahlreichen Essays, Stellungnahmen und Editionen dafür sorgt, dass die Sache der Dichtung nicht vergessen wird. Wie viele schleswig-holsteinische Autorinnen und Autoren aus dem Hamburger Umland wurde er in der Freien und Hansestadt geboren, wuchs aber in Ahrensburg auf:

Ich bin in Hamburg zur Welt gekommen, habe aber nördlich davon Kindheit und Jugend verbracht, da, wo noch vor der Sonne die Rapsfelder aufgehen und zu leuchten beginnen und schwarzweiße Kühe die höchsten Erhebungen sind; in einer holsteinischen Kleinstadt, deren Alter noch am Verlauf ihrer Straßen abzulesen ist, aus der jedoch, vom eischaumweißen Wasserschloss abgesehen, viele alte Gebäude verschwunden sind […].

Jan Wagner: Vorstellung für eine Akademie. In: Der verschlossenen Raum. Beiläufige Prosa. Berlin: Carl Hanser 2017, S. 220.

Den Umstand, dass in der Straße seiner Kindheit „ungewöhnlich viele Seefahrer im Ruhestand lebten“#1 und auf diese Weise eine geheime Verbindung zwischen Ahrensburg und den Schleswig-Holstein umschlingenden Meeren entstand, hat Wagner später auch in poetischer Weise verarbeitet. In seinem Gedicht die kapitäne entsteht so mitten im Binnenland eine verheißungsvolle Welt des maritimen Zaubers:

schweigsame männer mit fischen im namen
einsilbig, silbrig,
herr barsch, herr dorsch, herr butt –
wir klebten wie pfahlmuscheln an den türen
und fensterläden, lauschten
auf madagaskar, sansibar,
tauschten wörter wie glasperlen aus,
kalfatern, brigg, persenning …

Jan Wagner: die kapitäne. In: Die Live Butterfly Show. Gedichte. Berlin: Hanser Berlin 2018, S. 10, V. 12–19.

Darüber hinaus war es die für viele dichterische Karrieren einschlägige Institution der kleinstädtischen Buchhandlung, die auch bei Wagner für das entscheidende poetische Erweckungserlebnis sorgte:

Denn es war ja so, dass man durch nur eine Tür von der Hagener Allee hineingelangte in die Buchhandlung, sich aber durch unendliche viele Türen wieder hinausfinden ließ: Ins sommerliche Dublin des Jahres 1904, in dem Leopold Bloom für immer und ewig ein Stück Zitronenseife kauft; ins Yoknapatawpha County des amerikanischen Südens; in das englische Gasthaus Admiral Benbow und von dort weiter auf eine namenlose Schatzinsel; in den Laderaum des Walfangschiffes Pequod

Jan Wagner: Eine Tür hinein, viele hinaus. Kurze Lobrede auf die Buchhandlung. In: Der verschlossenen Raum. Beiläufige Prosa. Berlin: Carl Hanser 2017, S. 262.

und in zahlreiche andere Schauplätze der Weltliteratur.#2 Dass Wagner hier überwiegend Orte der englischsprachigen Literatur nennt, entspricht durchaus seinen Neigungen und seiner Ausbildung: Nach dem Abitur verließ er Ahrensburg auch real und studierte in Hamburg, Dublin und Berlin Anglistik. 2001 erschien sein erster Gedichtband und 2003 die gemeinsam mit Björn Kuhligk herausgegebene, vielbeachtete Anthologie Lyrik von Jetzt, und seitdem ist Wagner als freischaffender Schriftsteller tätig und erfolgreich. Für sein Schaffen wurde er mit etlichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet: 2011 verbrachte er ein Jahr als Villa-Massimo-Stipendiat in Rom, und 2015 erhielt sein Buch Regentonnenvariationen als erster Lyrikband überhaupt den Preis der Leipziger Buchmesse. 2017 folgte der Büchner-Preis.

Bereits 2009, relativ am Anfang seiner Karriere, erhielt Wagner den seinerzeit zum ersten Mal vergebenen Wilhelm-Lehmann-Preis. In seiner Preisrede setzt er sich mit dem Namensgeber und dessen intensiven Verhältnis zur schleswig-holsteinischen Landschaft auseinander. Die Beziehung seiner eigenen Lyrik zum Norden beschreibt er deutlich zurückhaltender:

Für Lehmann wurde, wie er einmal sagte, dieses Land mit seiner „heidnischen Schönheit“ zur „Mutter meiner Dichtung“. Ob ich dies mit derselben Bestimmtheit für meine Gedichte sagen könnte, weiß ich nicht, halte es aber für möglich, wenn ich an gewisse Motive, Bilder und Themen denke.

Jan Wagner: Merlinszeit. Über Wilhelm Lehmann. In: Merlinszeit. Wilhelm Lehmann braucht ein Haus in Eckernförde. Hrsg. v. Uwe Pörksen. Göttingen: Wallstein 2010, S. 53.

In der Tat wird man Wagners Lyrik nicht mit der weltentrückten Beschwörung der fast menschenleeren Natur verwechseln wollen, für die Lehmann bekannt ist – die Gedichte des Jüngeren sind sozialer, menschenzugewandter und generell weniger an eine bestimmte Gegend gebunden. Dennoch gibt es durchaus einige Motive mit Bezug zum Norden zu entdecken, etwa die bereits genannten Kapitäne oder den Seetang, der in einem Prosagedicht gewürdigt und mit bildreicher Genauigkeit beschrieben wird:

wie er sich um die schrauben schlang, mit all seiner nach-
giebigkeit, ölig glänzend wie ringerkörper; wie er dem
schwimmenden kalt ans bein griff, ihn als ertrunkenen be-
grüßte unter seinesgleichen. […]

Jan Wagner: tang. In: Die Live Butterfly Show. Gedichte. Berlin: Hanser Berlin 2018, S. 31.

In seinem als Edition dreier obskurer Dichter getarnten Gedichtband Die Eulenhasser in den Hallenhäusern hat sich Wagner 2012 am intensivsten mit Schleswig-Holstein auseinandergesetzt – man könnte sagen, dass er sich das Land hier ironisch vom Halse geschrieben hat. Der Band gibt vor, Gedichte von drei extrem unbekannten Autoren mit allem philologischen Drum und Dran (Einführung, Stellenkommentar, Bibliografie) zu präsentieren, und darunter befindet sich mit „Anton Brant“ auch ein Schleswig-Holsteiner. Seine Biografie liest sich wie eine Persiflage auf alle klischeeverdächtigen norddeutschen Dichterleben, die die Literaturlexika – und auch diese Seite – bevölkern:

Der sechste Sohn einer holsteinischen Bauernfamilie erblickt das Licht der Welt dort, wo es fast genau auf der Höhe des Meeresspiegels auf die nahrhafte Erde der Marsch trifft, nur wenige Zentimeter über Normalnull also – sofern nicht dichte Sturmwolken über das ebene Land jagen oder ein schier nicht enden wollender Nieselregen den Tag verdunkelt.

Jan Wagner: Einführung in Leben und Werk Anton Brants. In: Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene. Gedichte. Berlin: Hanser Berlin 2012, S. 17.

Auch die Poesie dieses fiktiven Nordlichts aus der Nähe von Friedrichstadt wird vom „Herausgeber“ Wagner genau so beschrieben, wie es das Klischee will – natürlich wächst Brant in einem Marschdorf unter lauter wortkargen Bauern auf, natürlich ist er Autodidakt, und natürlich schreibt er hauptsächlich über seine flache und ursprüngliche Umgebung: Er schöpft

aus der herben Schlichtheit der schleswig-holsteinischen Landschaft mit ihren gedeckten Farben und dem weiten Himmel über ihr, aus Feldern und Weiden, Flüssen und Meeren. Er bedichtet Saatbeete und Rübenernte, Feldhäcksler und Futtersilos […].

Jan Wagner: Einführung in Leben und Werk Anton Brants. In: Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene. Gedichte. Berlin: Hanser Berlin 2012, S. 19.

Die so entstandene Poesie ist dementsprechend vollgestopft mit ländlichem (aber keineswegs nur norddeutschem) Vokabular, das Wagner eigens in einem Glossar nachweist und das die Gedichte einerseits sehr provinziell, andererseits sehr komisch macht:

Die Piepel mit Rodel und Marmel,
Im Winter mit einer Glitsche am
Gefrorenen Woog, im Sommer
Am Fluß mit einer Angel oder schirkend,
Während die Kreise durchs Wasser wachsen,
Die Umlaufbahnen der Insekten kreuzen.

Jan Wagner [als Anton Brant]: Die Vergnügungen. In: Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene. Gedichte. Berlin: Hanser Berlin 2012, S. 40, V. 10–16.

Liest man das ganze Buch mit den Gedichten von Brant und den anderen beiden „Verborgenen“ Theodor Vischhaupt und Philip Miller, wird klar, dass es Wagner nicht nur um einen geistreichen literarhistorischen Witz geht – die Werke der fiktiven Autoren sind mit Liebe zum poetischen Seitenweg geschrieben und ermöglichen es dem Autor, ihm sonst verwehrte dichterische Positionen einzunehmen. Gleichzeitig stellen sie natürlich auch Wagners beeindruckende Kenntnis literarischer Formen unter Beweis: Wer entlegene dichterische Traditionen aufgreifen und parodieren will, muss sie zunächst sehr gut kennen, und der Gedichtband lässt keinen Zweifel daran, dass der Autor seine Millers, Vischhaupts und Brants versteht und respektiert - „[a]lle drei Dichter waren mir […] nahe genug, um mühelos in sie hineinwachsen zu können“, wie er selbst sagt.#3

Wagners Dichterfiktionen zeigen somit etwas, was auch sonst wichtig für diesen Autor ist: Er verfügt über profunde Kenntnisse des poetischen Handwerks und der literarischen Tradition und hat in zahlreichen Essays und Reden darüber Auskunft gegeben – anders als seine fiktiven Dichter scheut er also nicht das Licht der Öffentlichkeit, und auf diese Weise ist er zu einem prominenten Fürsprecher der Poesie geworden. Dabei beschwört er einerseits das Flüchtige und scheinbar Zufällige, das das Gedicht ausmache, schreckt aber andererseits auch nicht davor zurück, von „Präzision und handwerklicher Meisterschaft“ zu sprechen.#4 Aus der Kombination von scheinbarer Beiläufigkeit und technischer Finesse entsteht Schönheit, wie Wagner das unter Verwendung eines weiteren fast altmodisch klingenden Begriffs genannt hat.#5 In der Tat finden wir in seiner Lyrik häufig Wendungen und Ideen, die trotz ihrer offensichtlichen Klugheit und Brillanz unaufdringlich und leicht wirken und uns somit zum Staunen bringen. Stellvertretend dafür soll hier am Ende des Artikels seine Beschreibung eines Mückenschwarms stehen, die leichter Hand Natur und Zivilisation verbindet und damit sehr gut die spezifische Position dieses Autors beschreibt:

als hätten sich alle buchstaben
auf einmal aus der zeitung gelöst
und stünden als schwarm in der luft

Jan Wagner: versuch über mücken. In: Regentonnenvariationen. Gedichte. Berlin: Hanser Berlin 2014, S. 21, V. 1–3.

1.6.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Jan Wagner: Vorstellung für eine Akademie. In: Der verschlossenen Raum. Beiläufige Prosa. Berlin: Carl Hanser 2017, S. 220.

2 Jan Wagner: Eine Tür hinein, viele hinaus. Kurze Lobrede auf die Buchhandlung. In: Der verschlossenen Raum. Beiläufige Prosa. Berlin: Carl Hanser 2017, S. 262.

3 Jan Wagner: Der Poet als Maskenball. Über imaginäre Dichter. In: Der verschlossenen Raum. Beiläufige Prosa. Berlin: Carl Hanser 2017, S. 208.

4 Jan Wagner: Der verschlossene Raum. Münchner Rede zur Poesie. In: Der verschlossenen Raum. Beiläufige Prosa. Berlin: Carl Hanser 2017, S. 40.

5 Jan Wagner: Über das Schöne in der Lyrik. Hamburg 2016.