Joachim Ringelnatz

Ringelnatz, Joachim; geboren als Hans Gustav Bötticher. Pseudonym(e): Fritz Dörry; Gustav Hester; Pinko Meyer.

Geboren in Wurzen am 7. August 1883
Gestorben in Berlin am 17. November 1934

Wo in diesem fluidalen Berufe
ohnehin jeder jeden und jede beerbt
(also alles soweit im Fluss)
wünsche ich mir für die Tage nach Ladenschluss,
nein, keinen Ordensstern, keine Ehrenschleppe,
aber dass ihr vielleicht in die unterste Stufe
der Ringelnatztreppe
meinen Namen einkerbt.
[…]
Hoch sollst du leben,
solange ich selbst eben noch lebe,
großer kleiner,
bis in den letzten Nervenstrich spinnwebfeiner
unübersetzbarer Mann!

Peter Rühmkorf: wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte. Reinbek 1999, S. 20 f.

Mit diesen Versen der offenen Bewunderung feiert der 70jährige Peter Rühmkorf 1999 einen Kollegen, der zu diesem Zeitpunkt zwar schon seit sechseinhalb Jahrzehnten tot, aber im Gedächtnis des deutschen Literaturbetriebs noch erstaunlich quicklebendig ist. Kaum ein anderer seiner Zeitgenossen hat, so scheint es, die Gezeiten und Moden so gut überstanden wie Joachim Ringelnatz, der die längste Zeit seines Lebens Hans Gustav Bötticher hieß und selbst nur 51 Jahre alt wurde aber in diesen 51 Jahren durch die Welt gekommen ist, wie sonst kaum jemand.

Geboren wird er 1883 in der sächsischen Domstadt Wurzen in eine wohlhabende Familie. Vor allem der Vater übt einen immensen Einfluss auf Hans Gustav aus und stellt somit die Weichen für dessen spätere eigenen literarischen Ambitionen. Zuvor quält sich das jüngste von drei Geschwistern jedoch erst durch eine beschwerliche Schulzeit; das Gymnasium in Leipzig muss er vorzeitig verlassen, nachdem er sich auf der Völkerschau von einer Samoanerin den Unterarm hat tätowieren lassen. Da steht für den 18-Jährigen schon fest, dass er zur See fahren möchte, was er nach der unrühmlichen Beendigung der privaten Realschule dann auch prompt in die Tat umsetzt: Er heuert 1901 auf dem Segelschiff „Elli“ an, desertiert in Britisch-Honduras, wird wieder eingefangen und arbeitet nach beschwerlicher Rückfahrt zunächst auf dem Hamburger Dom als Schlangenträger. Weitere Schiffsreisen auf allen Meeren folgen, ehe sich Bötticher, gerade 20 Jahre alt, Ende 1903 als „Einjährig-Freiwilliger“ zum Dienst bei der Zweiten Kompagnie der Ersten Matrosendivision bei der Kaiserlichen Marine in Kiel meldet.

In seinen autobiographischen Vorkriegsaufzeichnungen, die 1931 unter dem Titel „Mein Leben bis zum Krieg“ erschienen sind, hat uns Ringelnatz einen lebendigen Eindruck von der damaligen Marinestadt Kiel hinterlassen:

Mit der Zeit wurden wir geimpft, erhielten Gewehre, dann fand die feierliche Vereidigung statt. Wir durften nun abends allein die Kaserne verlassen.
Im militärischen Gewimmel in den Straßen Kiels gab’s dann zunächst die komischen oder folgenschweren Verwechslungen beim Grüßen der Vorgesetzten. Wir hielten einen betressten Hotelportier für einen Admiral und umgekehrt und ähnliches. […]
Unsere Freude an unseren Uniformen war natürlich anfangs eine sehr stolze gewesen. Wir alle hatten uns bei der ersten, sich bietenden Gelegenheit fotografieren lassen, mit fürchterlicher Seeschlacht im Hintergrund. Da aber in Kiel nur wenige Zivilisten, hingegen Tausende von Marinern waren, merkten wir bald, dass ein Matrose dort keine Rolle spielte. Die Mädchen nannten uns verächtlich „Kulis“ und sahen nur nach den Offizieren. Und die Kaufleute, die doch von uns lebten, wussten, dass wir auf die angewiesen waren und behandelten uns hochmütig. Andererseits war auch ein unbeschreiblich rohes Pack unter uns. Eine Dame durfte sich nachts nicht auf die Straße wagen, wo die Urlaubsboote anlegten.

Joachim Ringelnatz: Mein Leben vor dem Kriege [1931]. Reinbek 1966, S. 166f.

Bötticher wird als Signalgast auf den Kreuzer S.M.S. „Nymphe“, ein Torpedoversuchsschiff, abkommandiert, und verbringt dort den Rest seines ersten Aufenthalts auf und an der Ostsee: „Sturm und Kälte bei Übungsfahrten bei Helgoland. Zu Weihnachten auf Urlaub daheim, in der schmucken Uniform im Binnenland sehr angesehen. Am 3. Januar 1905 wurde ich entlassen mit der Beförderung zum Bootsmannsmaat." #1

Die folgenden Jahre bringt Bötticher ausgesprochen unstet zu, oftmals steht er kurz vorm Hungertod, etwa als er 1908, auf der Reise vom englischen Hull zurück nach Deutschland, in Amsterdam in einer Kiste auf einer Bodenkammer haust und daraufhin für mehrere Monate im Gefängnis landet.

1909 wird schließlich zum Schicksalsjahr für Hans Gustav Bötticher: In der berühmten Münchner Künstlerkneipe „Simplicissimus“ findet der Gelegenheitsmaler und -poet freundliche Aufnahme und wird von Besitzerin Kathi Kobus zum Hausdichter ernannt; nebenbei schreibt er Werbetexte und veröffentlicht, unter diversen Pseudonymen, erste Bücher. Er überwirft sich bald mit Kobus, verdingt sich 1911, als Wahrsagerin verkleidet, in einem Bordell in Kurland, arbeitet 1912 als Privatbibliothekar beim Grafen Heinrich Yorck von Wartenburg in Schlesien, veröffentlicht weitere (weitgehend unbeachtete) Gedichtbände und Erzählungen, und meldet sich schließlich im August 1914, unmittelbar nach Kriegsbeginn, erneut zur Marine. Die Kriegsbegeisterung vieler seiner Generationsgenossen hat auch ihn gepackt, wie er in seinen Kriegsmemoiren Als Mariner im Krieg, erstmals veröffentlicht 1928, offenherzig darlegt: „Etwas wie ein Gruseln ging durch alle, und auch die ruhigdenkendsten Leute waren tief ergriffen von dem Gedanken des Weltbrandes." #2

Über Cuxhaven kommt Bötticher schließlich, zehn Jahre nach seinem ersten Aufenthalt, wieder in die Kieler Bucht zurück. Die Festung Friedrichsort, 1683 unter Christian V. angelegt, wird für sich endlos ziehende Monate seine neue Bleibe. Der Kriegseinsatz ist ihm, der sich nichts sehnlicher wünscht, bis zuletzt versagt; stattdessen bleibt ihm nur der zermürbende Alltag eines Marinesoldaten an Land. Jede Unterbrechung der Routine wird freudig wahrgenommen:

Man gab uns auch Garnisionsurlaub. Um das Fährgeld zu sparen, ging ich zu Fuß über die imposante Hochbrücke bei Holtenau nach Kiel. Dort war großer Betrieb. Hinter der Mauer verteilten Herren, die die Armbinde des Roten Kreuzes trugen, Flugschriften an die weibergierigen Matrosen. In den Traktätchen wurde mit Schlagworten dazu aufgefordert, Laster und Sünden gegen geselligen Verkehr mit Gleichgesinnten und Stärkung durch Gottes Wort im Marineheim einzutauschen. […]
Mehrmals wurde ich nach Kiel geschickt, um Kisten abzuholen oder zu befördern, beziehungsweise das Verladen zu beaufsichtigen. Die Beaufsichtigung aber unterließ ich, stattdessen schlich ich mich ins Hospiz oder in den Ratskeller, trank, wenn ich Geld hatte, Wein, aß Möweneier mit Spinat und dichtete. Kurz, es ging mir sündhaft gut.

Joachim Ringelnatz:Als Mariner im Krieg [1928}. Zürich 2004, S. 118 f.

Mehr noch als zehn Jahre zuvor wird das Straßenbild Kiels von den Angehörigen der Kriegsmarine bestimmt: „Matrosen als Kellner, als Friseure, als Bademeister und als Musiker, Matrosen zu Pferd, Matrosen auf dem Kutschbock, auf der Post und hinterm Ladentisch.“ #3 Nach einem längeren Urlaub in München, Leipzig, Merseburg und Regos bei Borna erscheint ihm die Kieler Förde trist und abstoßend: „Wir waren unzufrieden und kriegsmüde. Ich konnte die bornierten und hochmütigen Gesichter der Kieler Bürger nicht mehr sehen. Ich wünschte die gesamten aktiven Marineoffiziere zur Hölle." #4 Das Kommando nach Warnemünde zur Vorpostenflottille West kommt da wie gerufen.

Nach Kriegsende nimmt Bötticher seine Schreibtätigkeit wieder verstärkt auf, im Dezember 1919 veröffentlicht er erstmals Gedichte unter seinem Pseudonym „Joachim Ringelnatz“. Im Berliner Kabarett „Schall & Rauch“ gelingt ihm 1920 der Durchbruch zum Vortragskünstler. Er malt, dichtet, macht Ausstellungen, veröffentlicht, reist umher. Es erscheinen seine beiden erfolgreichsten Gedichtbände Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid sowie die Turngedichte.

Den Aufstieg der Nationalsozialisten nimmt er lange nicht ernst: erst mit dem Arbeitsverbot und der Verbrennung seiner meisten Bücher wird ihm die Brenzligkeit der Lage überdeutlich. Er und seine Frau verarmen, er erkrankt an Tuberkulose und verstirbt schließlich an der Krankheit am 17. November 1934 in seiner Wohnung in Berlin. Auf seiner Beerdigung im kleinsten Kreis wird sein Lieblingslied gespielt: La Paloma.

Das Ringelnatzmuseum im niedersächsischen Cuxhaven zeigt seit 2002 das Gesamtwerk von Joachim Ringelnatz, ausdrücklich auch unter Einschluss des malerischen Werks.

28.5.2021Jens Raschke

ANMERKUNGEN

1 Joachim Ringelnatz: Mein Leben vor dem Kriege [1931]. Reinbek 1966, S. 172.

2 Ders.: Als Mariner im Krieg [1928}. Zürich 2004, S. 11

3 Ebd., S. 123

4 Ebd. S. 156.