Elisabeth Plessen
Plessen, Elisabeth; geboren als Elisabeth Charlotte Marguerite Auguste Gräfin von Plessen
Geboren in Neustadt am 15. März 1944
Lebt in der Toskana und in Berlin
Von Neustadt in Holstein nach West-Berlin waren es über die Transitstrecke F 5 durch die DDR rund 350 km. Sechs Stunden mit dem Auto plus Wartezeiten an den Grenzen. Das erscheint lange. Aber um die soziale und kulturelle Distanz zwischen Ostholstein und West-Berlin zu überbrücken, braucht es Jahre. Und wahrscheinlich bleiben diejenigen, die diesen Weg in die eine oder die andere Richtung zurücklegen, immer fremd. Migranten, nicht zwischen Kontinenten, aber zwischen Kulturen.
Elisabeth Plessen ist diesen Weg gegangen, von ihrem Elternhaus, dem adeligen Gut Sierhagen bei Neustadt in Holstein nach West-Berlin (mit einem Umweg über Paris). Eine radikale Migrantin aus eigenem Willen. Aus eigenem Willen? Niemand flieht freiwillig. Sie brach mit allem, was ihr Leben als junge Frau ausmachte: Herkunft, Familie, dem vorgesehenen Lebenslauf. Die Prägung durch die eigene Gesellschaftsschicht abzuwerfen ist wie eine Häutung. Das geht nicht ohne Schnitte in die eigene Haut, und das tut weh. In drei ihrer wichtigsten Bücher setzte Elisabeth Plessen sich mit ihrer Häutung auseinander – mit der schmerzhaften Metamorphose der adeligen Tochter, deren Zukunft hieß zu heiraten, Herzogin zu werden und Söhne zu bekommen, in eine Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Schriftstellerin.
Am 15. März 1944 wurde Elisabeth Charlotte Marguerite Auguste Gräfin von Plessen in Neustadt in Holstein geboren. Ihre Eltern waren der Gutsbesitzer zu Sierhagen und Mühlenkamp Carl Ludwig Cay Graf von Scheel-Plessen, und seine Ehefrau Anita, geb. von Scheven. Das Adelsgeschlecht derer von Plessen kann seine Vorfahren bis ins Mittelalter zurückverfolgen. „Die Familie“, wie Elisabeth Plessen sie in Interviews nannte, wurde für sie zur untragbaren Last. Weniger einzelne individuelle Personen als die Traditionen des Adels, in denen sie aufwuchs.
Adel? Gibt es den überhaupt noch? Sind nicht alle Standesvorrechte 1919 abgeschafft worden? Ja und nein. In Holstein spielt der Adel immer noch eine Rolle. Der Herzog von Oldenburg lässt sich bis heute mit „Königliche Hoheit“ anreden, obwohl das Haus Oldenburg schon seit über hundert Jahren nicht mehr regiert. Seine Brüder und Cousins beanspruchen lediglich den Titel „Hoheit“. Viele holsteinische Güter und Herrenhäuser sind nach wie vor in der Hand altadeliger Familien. Oft verschuldet, ohne Butler und zahlreiche Dienerschaft, die keiner mehr bezahlen kann. Aber das Standesbewusstsein ist geblieben. Ebenso der Wunsch, die Familie „im Mannesstamme“ fortzusetzen, und zwar innerhalb des Adels. „Komm mir bloß nicht mit Müller-Meier-Schulze nach Hause“, bekam Elisabeth von ihren Eltern zu hören. Bloß keine Heirat mit einem Bürgerlichen. Natürlich ist man höflich gegenüber Bürgerlichen, aber das ist lediglich Ausdruck perfekter Manieren auch im Umgang mit dem geringsten Untertanen.
Elisabeth von Plessen wurde bis zum Alter von 14 Jahren von Hauslehrern unterrichtet, kam dann in ein Internat in Plön und für die Oberstufe auf ein privates Mädcheninternat nach Heidelberg. Die Erziehung war streng, die Mitschülerinnen entstammten meist „besseren“ Kreisen. Hier begann sie mit ersten Schreibversuchen und mit dem Nachdenken darüber, was höheren Töchtern gesagt wurde und was nicht. Hier begann ihre Ablösung von der Familie, und wie schmerzhaft das gewesen sein muss, ist in Das Kavalierhaus nachzulesen und in Mitteilung an den Adel, Elisabeth Plessens erstem, von der Literaturkritik hochgelobten Roman. Der erschien 1976 und schlug ein wie eine Granate, jedenfalls in Holstein. Skandal! Angeblich wagten einige Buchhändler es aus Respekt vor dem holsteinischen Adel nicht, das Buch öffentlich auszulegen. In literarisch ausgefuchster Manier setzt sich die abtrünnige Gräfin darin mit ihrer Herkunft auseinander und mit ihrer Prägung durch konservatives Standesbewusstsein. Das Buch wird gern zur sogenannten „Väterliteratur“ gezählt, aber es geht weit über eine Autobiografie hinaus. Es ist eine Auseinandersetzung der Achtundsechziger-Generation mit der Generation ihrer Eltern, mit deren Rolle im NS-Staat und mit der späteren Leugnung jeglicher schuldhaften Verstrickung. Es ist voller Fragen an die Generation der Väter und der Mütter, die den NS-Staat erlebt, ertragen und gestützt haben. Insofern ein sehr zeittypisches Buch. Denn auch bürgerliche Familien nahmen ihren Kindern die kritische Auseinandersetzung mit der Elterngeneration furchtbar übel.
Als Mitteilung an den Adel erschien, hatte Elisabeth Plessen ihren Adelstitel bereits abgelegt. Nach Studienjahren in Paris und West-Berlin und einer Promotion bei Walter Höllerer arbeitete sie als Literaturwissenschaftlerin, u.a. gab sie Katja Manns „ungeschriebene Memoiren“ heraus. Seit 1980 lebte sie mit dem Regisseur Peter Zadek zusammen, auch so ein Skandalmensch in den Augen mancher Zeitgenossen. Bis zu seinem Tod 2009 arbeitete sie eng mit ihm zusammen. Sie bearbeitete klassische Bühnentexte, die Grundlage wichtiger Inszenierungen wurden. Unter anderem übersetzte sie mehrere Stücke von Shakespeare neu aus dem Englischen. Über viele Jahre veröffentlichte sie Gedichte, Erzählungen und Romane. Am bekanntesten ist sie aber für die drei Romane, in denen sie sich mit dem gesellschaftlichen Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt und speziell mit der überkommenen Rolle des Adels – ein Thema, zu dem sie mehr zu sagen hat als viele andere. Mitteilung an den Adel (1976), Das Kavalierhaus (2004) und Die Unerwünschte (2019) bilden eine Trilogie, die um die Domestizierung des Individuums durch Herkunft und Familie kreist, und um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. Mit einer einseitigen Festlegung auf dieses Thema tut man Elisabeth Plessen aber unrecht, denn ihr Blick reicht weiter: In ihrem neuesten Gedichtband Das Zuhause der Erinnerungen findet sich ein langes Poem namens Die Verheißung, in dem sie die verzweifelten, mit dem Tode endenden Versuche Tausender von Menschen aus Afrika und Asien beschreibt, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Sie ist nicht nur eine wichtige Autorin im Umfeld der studentenbewegten 1970er Jahre, eine Nestbeschmutzerin (aus Sicht des holsteinischen Adels), eine Theaterautorin und die Lebensgefährtin von Peter Zadek, sondern vor allem eine sehr gute Schriftstellerin.
17.6.2021Susanne Luber
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WERKE
• Mitteilung an den Adel. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. (erstmals: 1976)
• Kohlhaas. Roman. Berlin: Berlin Verlag 2011. (erstmals: 1979)
• Zu machen, dass ein gebraten Huhn aus der Schüssel laufe. Geschichten. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch 1991. (erstmals: 1981)
• Stella polare. Roman. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1989. (erstmals: 1984)
• Das Kavalierhaus. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017. (erstmals: 2004)
• Lina. Erzählung. Gifkendorf: Merlin 2004.
• Ich sah uns dort in der Ferne gehen. Illustrationen von Leiko Ikemura. Stuttgart: Radius 2008.
• Ida. Roman. Berlin: Berlin Verlag 2010.
• An den fernen Geliebten. Gedichte. Berlin: Berlin Verlag 2014.
• Die Unerwünschte. Roman. Berlin: Berlin Verlag 2019.
• Das Zuhause der Erinnerungen. Gedichte. Stuttgart: Radius 2019.