Susanne Matthiessen

Matthiessen, Susanne

Chronistin der Sylter „goldenen Jahre“

Geboren auf Sylt 1963

Lebt in Berlin

Dass Sylt sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert hat, belegt neben vielen anderen Dingen schon der Eintrag in Susanne Matthiessens Personalausweis: Sie ist in Westerland geboren und gehört damit zu einer schrumpfenden Gruppe von „echten“ Insulaner*Innen – heutzutage gibt es auf der Insel keine Geburtsstation mehr. Und auch sonst hat sich auf Sylt der Wind gedreht – die Welt von Matthiessens Kindheit, deren Eltern in Westerland ein legendäres Pelzgeschäft betrieben, ist ebenso dahin wie Pelzmäntel als Statussymbol der Reichen.

Bevor Matthiessen diesen Wandel zu ihrem Thema als Schriftstellerin machte, arbeitete sie zunächst als Journalistin – nach einem Studium an der Deutschen Journalistenschule in München zuerst in Kiel bei Radio Schleswig-Holstein. Später wurde sie Mitgesellschafterin und Programmdirektorin bei BB Radio in Potsdam. Danach ging sie zurück in den Journalismus und arbeitete für die TV-Magazine „Dunjy Hayali“, „Gabi Bauer“ und „Sabine Christiansen“. Der Insel Sylt blieb sie immer verbunden, unter anderem als Kolumnistin für die „Sylter Rundschau“. In dieser Zeitung erschien 2014 auch ein Text, der gewissermaßen die Keimzelle ihres späteren Buchs ist: Ein Nachruf auf eine befreundete Einzelhändlerin aus der Generation ihrer Eltern wird zu einem Rückblick auf Sylts „goldene Jahre“ (so auch der Titel des Artikels), in denen es für die Inselbevölkerung trotz mancher Turbulenzen doch generell stets aufwärts ging.

In ihrem 2020 erschienenen autobiografischen Roman Ozelot und Friesennerz weitet Matthiessen dieses Porträt einer Generation weiter aus und berichtet ausführlich und unterhaltsam davon, wie man im Westerland der 1970er Jahre aufwuchs. Als Spross einer Familie, die nicht nur mit Pelzen, sondern auch mit dem dazugehörigen luxuriösen Lebensgefühl handelt, ist die kleine Susanne selbstverständlich an den Umgang mit Sekt und Prominenz gewöhnt: „Im Sektflaschen-Öffnen könnte ich es zur Meisterschaft bringen. Ich bin inzwischen sehr effektiv und schnell. Da gibt es nämlich einen Trick, den hat mir Arndt von Bohlen und Halbach gezeigt“.#1 Dementsprechend mangelt es dem Buch nicht an Anekdoten über auf der Insel weilende Prominente von Gunter Sachs bis Rudolf Augstein und ihre Eskapaden, aber auch die Schattenseiten einer Sylter Kindheit werden nicht verschwiegen: Matthiessens Eltern arbeiten hart und – insbesondere in der Saison – praktisch ununterbrochen, sodass die Kinder oft zu kurz kommen. Dahinter steckt ein grundsätzliches Problem, das sich zum Beispiel in der öffentlichen Kommunikation der Familie zeigt: Das Geschäft geht jederzeit vor.

Und da stürmt auch schon mein Vater in den Laden. […] „Hallo, Schatz“, sagt er, zieht meine Mutter kurz an sich und haucht ihr einen Kuss auf die Wange. Um aber nicht gleich zu familiär zu werden, werden wir Kinder prinzipiell nicht begrüßt. Der Kunde soll nämlich immer das Gefühl haben, er stünde an erster Stelle, und keinesfalls darf bei ihm der Eindruck entstehen, hinter Kindern einsortiert zu sein.

Susanne Matthiessen: Ozelot und Friesennerz. Roman einer Sylter Kindheit. Berlin: Ullstein 2020, S. 94f.

Die oft komischen und nicht selten melancholischen Kindheitserinnerungen werden von einem Prolog und einem Epilog eingerahmt, in dem Matthiessen sehr kritisch und direkt die heutige Situation der Insel anspricht: Was in den „goldenen Jahren“ noch mit Pioniergeist und einer gehörigen Portion Chaos und Experimentierfreude aufgebaut wurde, ist mittlerweile fast komplett von einer neuen Geschäftskultur ersetzt worden, die die Insel in ihrer Existenz bedroht: „Eigentlich muss man staunen, dass wir Sylter immer noch da sind. Wenn man bedenkt, mit welcher Wucht und Macht die Investoren mittlerweile zu Werke gehen, um uns die Insel endgültig zu entreißen.“#2 Wenn sie die Mischung aus Gier und Passivität beschreibt, die auch die Einheimischen zu Komplizen dieser Entwicklung macht, schreckt die Autorin nicht vor deutlichen Worten zurück:

Die Investoren landen mit ihren Schiffen an unseren Küsten an und marschieren ein wie Eroberer. Und wir Sylter rotten uns um ein großes Feuer zusammen, hängen alten Zeiten nach und lauschen der Inselhymne: „Us Söl’ring Lön“. Unser Sylter Land. Aus dem Friesischen in den aktuellen Inseldialekt übersetzt mit „Der Kunde hat immer recht“. Deshalb gehört es uns auch nicht mehr, unser Sylter Land. Und wir ziehen trotzdem immer noch unsere Sylter Freiheitsfahne hoch, auf der seit Jahrhunderten steht: „Lewer duad üs Slaav“ (Lieber tot als versklavt) und gehen dann zur Arbeit. Ist ja auch immer so viel zu tun.

Susanne Matthiessen: Ozelot und Friesennerz. Roman einer Sylter Kindheit. Berlin: Ullstein 2020, S. 243.

Man kann davon ausgehen, dass sich Matthiessen mit dieser Deutlichkeit auf Sylt nicht nur Freunde gemacht hat, und aus ihrem gesamten Buch spricht trotz mancher liebevollen Beschreibung eine deutliche Distanz zum heutigen Zustand der Insel. Dennoch gilt für sie laut dem Klappentext ihres Buches: „Susanne Matthiessen lebt gern in Berlin, lebt aber nur am Meer richtig auf.“

Eine Fortsetzung ihres Romans, die sich unter dem Titel Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehn nunmehr den Jugendjahren Susanne Matthiessens widmet, erscheint im März 2022.

18.6.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Susanne Matthiessen: Ozelot und Friesennerz. Roman einer Sylter Kindheit. Berlin: Ullstein 2020, S. 81.

2 ebd., S. 230.