Schorsch Kamerun
Kamerun, Schorsch; geboren als Thomas Sehl.
Musiker, Regisseur und Autor unsentimentaler Jugenderinnerungen
Geboren am 29. Mai 1963 in Timmendorfer Strand
Dass das überwiegend ländliche und kleinstädtische Schleswig-Holstein zwar Besucher*Innen anzieht, seine Unangepassten und Freigeister aber gleichzeitig oft zur Flucht nötigt, ist keine ganz neue Erkenntnis: Auf dem Gebiet der Literatur ist etwa an Fanny von Reventlow, Emmy Hennings oder Rocko Schamoni zu denken, die sich alle erst außerhalb ihrer provinziellen Geburtsorte künstlerisch entfalten konnten. Zu den prominenten Flüchtenden zählt auch der als Thomas Sehl in Timmendorfer Strand geborene Schorsch Kamerun. Wie Schamoni, mit dem er oft zusammengearbeitet hat, hat er über den Aufbruch zu neuen, großstädtischen Ufern ein Buch verfasst. Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens erschien 2016 und ist Schamonis Dorfpunks nicht unähnlich, was den Plot angeht, aber energischer und unversöhnlicher im Ton – in einem Interview betont der Autor, dass er das „Geschmackvolle an der Verklärung zurückliegender Epochen“ um jeden Preis vermeiden will. #1 Sein Geburtsort tritt hier als „Bimmelsdorfer Strand“ auf, und dem Protagonisten Horsti ist völlig klar, dass dieses nur für Tourist*Innen interessante Nest ihm nicht gut tut:
Was auf jeden Fall in fester Erinnerung bleibt, ist das Gefühl an ein graues Unwohlsein, latente Schwere und eine diffuse Undurchdringbarkeit des Daseins. Die Sinnfreiheit jener Tage war dabei kaum auszuhalten, in ihrer alles in sich aufsaugenden Taubheit.
Überlebenswichtig wird deswegen die Gemeinschaft mit anderen rebellisch gesinnten Bimmelsdorfer*Innen. Mit ihnen zusammen gelingt es Horsti, das bedrückende Kleinstadtleben nicht passiv hinzunehmen, sondern eine Gegenstrategie zu entfesseln:
Es war eine wundersame Rettung aus höchster Not. Sie alle waren am Verdursten und am Absaufen im selben Moment, verkeilt in der Verklemmtheit der Nachkriegsbeauftragten, die ihre Nächsten, Lehrer, Ausbilder oder Politiker waren. […] Es musste jetzt mal etwas bedingungslos laut knallen. Heftig angegriffen werden. Die angebotene Mische der sich weiter knüppelhagel spätpreußisch aufführenden, in weiten Teilen starrgeistigen, autoritären Gesellschaft, die sich nur in frivolen, beschwipsten Bürgerspäßen auflockerte, war als Orientierungsbild insgesamt super unattraktiv.
Aus Horsti wird „Tommi from Germany“, und aus seiner Bimmelsdorfer Clique werden Punks. Er geht nach Hamburg und gründet eine Band. Dennoch, und das macht das Buch interessant, bleiben der Protagonist und sein Autor misstrauisch, was die bequeme Kategorisierung von jugendlicher Renitenz angeht. Bei allem Identifikationspotential von Punk behält Tommi auch dessen schnell einsetzende Kommerzialisierung im Blick: „Handeln lässt sich alles. Gerade Verweigerungsanstrich kann ein gutes Argument sein für einen langjährigen Nutzungsvertrag. Und so entstand die Idee von Tommis Band, bei Auftritten immer möglichst fehl am Platz zu sein.“ #2 Kameruns eigene Band, Die Goldenen Zitronen, verhält sich ähnlich: Sie machen sich zunächst einen Namen als Fun-Punk-Truppe, hinterfragen aber von Beginn an die musikalischen Automatismen, die mit einer solchen Genrezuordnung einhergehen, und erfinden sich bis heute immer wieder neu. Kamerun selbst meint dazu:
Wir sind ja sozusagen sogar schon falsch gestartet - mit dem Begriff Funpunk. Punk hat uns nicht gereicht, wir wollten ihn überzeichnen, weil wir verstanden haben, dass Punk eben auch schon eine Marke ist. Und deswegen haben wir eine Überreizung und Überdarstellung gewählt.
Die Goldenen Zitronen lassen sich bis heute nicht festlegen und meiden jede Punk-Orthodoxie, ohne dabei den rebellischen Geist der Bewegung zu verabschieden. Das macht sie bis heute, nach mittlerweile 13 Alben, zu einer der interessantesten Bands der deutschsprachigen Popmusik, woran die (von Kamerun im Wechsel mit Ted Gaier geschriebenen) Texte einen entscheidenden Anteil haben.
Neben der musikalischen Karriere hat sich Kamerun einen Namen als Theaterregisseur und Autor von Hörspielen gemacht. Er war viele Jahre lang gemeinsam mit Rocko Schamoni Betreiber des Golden Pudel Clubs in Hamburg-Altona.
Ist für jemanden, der sich erfolgreich gegen den provinziellen Herkunftsort zur Wehr gesetzt hat und in die Großstadt geflüchtet ist, eine Versöhnung mit der Heimat möglich? Im Roman unternimmt Tommi from Germany einen Versuch und sucht Bimmelsdorf nach langer Zeit wieder auf. Das Ergebnis bleibt durchwachsen: Zwar kann er sich zunächst „so etwas wie eine kleine Zugehörigkeit“ erkämpfen, aber bevor sich allzu viel Altersmilde einstellen will, brechen die alten Gräben wieder auf:
Die gleichen Ressentiments. Dieselben empfohlenen Maßnahmen. Keine pauschale Intoleranz, aber deutliche Nichtbereitschaft für jedwede Öffnung. […] In den nächsten Tagen war das alles betäubende Bimmelsdorfer Bleigefühl wieder da.
Auf die Frage einer Interviewerin, ob Tommi am Ende des Romans seine Heimatregion „besiegt“ hat, gibt der Autor eine differenzierte Antwort, die vielleicht auch für sein eigenes Verhältnis zur Herkunft stehen kann:
Er kann mit ihr umgehen. Heißt das, man hat seinen Frieden damit gemacht? Ist das irgendwas, was in mir drinnen ist, Heimat oder so eine Scheiße? Heimat ist ja kein Ort mit Grenzen drumherum. Aber schon der Ort, an dem man die Gerüche kennt.
14.11.2022 Jan Behrs
ANMERKUNGEN
1 Jürgen Ziemer: Goldene Zeiten [Porträt Schorsch Kamerun]. In: Der Freitag Nr. 15 vom 11.5.2016. Online unter https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/goldene-zeiten.
2 Schorsch Kamerun: Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens. Roman. Berlin: Ullstein 2016, S. 143.
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- Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens. Roman. Berlin: Ullstein 2016