Rainer Maria Rilke

Rilke, René Karl Wilhelm Johann Josef Maria.

Weltliterat in Worpswede und anderswo

Geboren am 4. Dezember 1875 in Prag (Österreich-Ungarn)
Gestorben am 29. Dezember 1926 in der Nähe von Montreux

 

Seine Gedichte „Der Panther“ und „Herbsttage“ („Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben / wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben“) sind noch immer Allgemeingut, aber kaum jemand weiß, dass Rainer Maria Rilke, der einflussreiche Autor des Malte Laurids Brigge und der Duineser Elegien, nicht nur in Worpswede gewesen ist, sondern auch einige Zeit in Schleswig-Holstein auf Schloss Haseldorf verbracht hat.

 

Rainer Maria Rilke wird als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke am 4. Dezember 1875 im damals österreichisch-ungarischen Prag geboren. Seine Kindheit verläuft schwierig: Der Vater Josef R. plante eine Militärkarriere, scheiterte jedoch und wurde Bahnbeamter, was den Erwartungen seiner Ehefrau nicht entsprach. Die als Sophie Entz geborene Mutter litt zudem unter dem frühen Tod ihrer Erstgeborenen und erzog Rilke als Tochter; bis zu seinem sechsten Lebensjahr „bevorzugte sie für ihren kleinen Sohn Mädchenkleider“. #1 Die Ehe wird geschieden. Rilke kommt nach der Volks- in eine Kadettenschule und soll anschließend eine Offizierslaufbahn einschlagen; doch er widersetzt sich und bereitet sich schließlich in Prag privat auf die Maturaprüfung vor, die er 1895 ablegt. Er studiert dort zunächst Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie, um dann zur Rechtswissenschaft und hierzu Ende September 1896 an die Universität München zu wechseln. Im Jahr 1894 erscheint sein erstes Buch: Leben und Lieder. Bilder und Tagebuchblätter.

 

Nach ersten und nicht unproblematischen Liebeserfahrungen beginnt Rilke 1897 eine intensive Liebesbeziehung mit der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé (1861–1937), die mit einem 15 Jahre älteren Orientalisten verheiratet ist. Die Beziehung prägt und verändert den jungen Dichter, was sich am deutlichsten in seiner Namensänderung zu „Rainer Maria Rilke“ zeigt; zudem folgt er der Frau nach Berlin. Dort gelingt es ihm, wichtige Kontakte zu knüpfen, so zu Stefan George (1868–1933) und Carl Hauptmann (1858–1921); zudem korrespondiert er etwa mit Detlev von Liliencron (1844–1909), dem zu Ehren er in Prag eine Lesung veranstaltet. Im Folgejahr reist Rilke nach Florenz, wo er ein Tagebuch anfertigt und u.a. Heinrich Vogeler (1872–1942) begegnet. Zwei akribisch vorbereitete Russlandfahrten schließen sich an: 1899 mit Lou und ihrem Ehemann, 1900 nur mit ihr. Es kommt zu Begegnungen mit Lew Tolstoi (1828–1910) und Boris Pasternak (1890–1960), die Rilke stark beeindrucken. Bereits nach der ersten Reise gerät er „in einen regelrechten Arbeits- und Schaffensrausch“; #2 er bringt die Gebete – den ersten Teil des erst 1905 erscheinenden Stunden-Buchs – zu Papier sowie Die Geschichten vom lieben Gott; ein Buch, das bereits zu Lebzeiten des Autors zwölf Auflagen erreicht. Noch erfolgreicher ist allerdings das ebenfalls 1899 verfasste Bändchen Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, das nach der Veröffentlichung 1906 den Rang eines „Kultbuches der Jugend“#3 erlangt. – Während der zweiten Russlandreise werden Rilkes Angstzustände und Depressionen ebenso deutlich wie die Abhängigkeit, in die er sich gegenüber Lou begeben hat. Nach der Rückkehr folgt Rilke daher einer Einladung Heinrich Vogelers nach Worpswede, um Abstand zwischen sich und die Frau zu bringen.

 

Die Künstlerkolonie Worpswede – in die er 1901 übersiedeln wird – bringt neue Schwierigkeiten. Rilke lernt dort die spätere Paula Modersohn-Becker (1876–1907) und deren Freundin Clara Westhoff (1878–1954) kennen, die ihn beide faszinieren; er ist innerlich aber immer noch an Lou gebunden. Paula scheibt über ihn: „Daneben Rainer Maria Rilke, ein feines lyrisches Talent, zart und sensitiv, mit kleinen, rührenden Händen. Er las uns seine Gedichte, zart und voller Ahnen. Süß und bleich.“#4 Nach einigen Wirren gelingt ihm der Absprung, und Rilke heiratet im April 1901 Clara Westhoff; die gemeinsame Tochter Ruth wird im selben Jahr geboren. Mit dem Familienleben wird Rilke allerdings bald Probleme haben. Im Mai 1901 ist er für mehrere Wochen auf Schloss Haseldorf in Holstein zu Gast, „wo ihm im Cavalierhaus inmitten eines großen Parks ein stilles Arbeitszimmer zur Verfügung steht“. #5 Über das Anwesen schreibt er im Folgejahr an Otto Modersohn: „Der große Park um das Schloß ist nicht zu gepflegt und wirkt vor allem durch seine Riesenbäume. Es gibt Linden und Kastanien, wie Berge; Bäume mit dunkelroten Blättern (ich weiß nicht, wie sie heißen), die wie Träume sind und Nadelhölzer, irgendwelcher fremdländischer Art, mit langen zottig hängenden Zweigen, die an das Fell urweltlicher Urtiere erinnern.“ #6 Und an seine Frau Clara: „Leider gab der trübe, träge Burggraben kein Spiegelbild dieser Bäume zu. Flieder und Rhododendren wachsen auch in solcher Höhe an uralten Büschen, die plötzlich irgendwo, in der Höhe von Baumkronen, ein reiches Blühen entfalten.“ #7 Rilke stöbert im Schlossarchiv und liest die Korrekturen für seine Gedichtsammlung Das Buch der Bilder, die – ebenso wie die Monografie über Worpswede – im Folgejahr erscheint.

 

Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Rilke allerdings schon in Paris, wo er eine Arbeit über Auguste Rodin schreiben will. „Für Rilke ist dieser Beginn eines neuen Lebensabschnitts in der Großstadt ein Alptraum. Er irrt durch die Stadt, sieht voller Beklommenheit die Armut, das Elend, die vielen Kranken.“ #8 Auch die Konfrontation mit der französischen Moderne – Baudelaire, Mallarmé, Verlaine – verunsichert zusätzlich. Immerhin erweist sich der Umgang mit Rodin als ebenso respektvoll wie angenehm, so dass die Studie bis Ende 1902 abgeschlossen werden kann. An der Krise, in der sich Rilke befindet, ändert dies jedoch nichts. 1903 nimmt er nach zweieinhalbjährigem Schweigen wieder den Kontakt zu Lou auf, die regelmäßig antwortet und ihren Teil dazu beiträgt, aus der Liebesbeziehung eine für Rilke überlebenswichtige Freundschaft zu machen: „Bis zu seinem Lebensende bleibt sie die Vertraute, mit der er die persönlichsten Probleme besprechen kann, der er seine Sorgen und Ängste anvertraut; sie bleibt die Anlaufstelle, wenn er gar nicht weiterweiß.“#9

 

Rilke tritt jetzt in seine mittlere Schaffensphase ein. Er lässt Paris vorläufig hinter sich und reist – nachdem ein zweimonatiger Abstecher nach Worpswede Ernüchterung gebracht hat – mit Clara nach Rom, wo er am Stunden-Buch arbeitet und den Malte Laurids Brigge beginnt. Rilke unternimmt weitere Reisen, wird für einige Monate Sekretär bei Rodin und veröffentlicht schließlich 1905 Das Stunden-Buch, das „beispielhaft für die Erprobung jenes lyrischen Verfahrens“ steht, „das Rilke in Abwendung von den verbrauchten Konzepten gängiger Stimmungslyrik unter dem Einfluß der zeitgenössischen Lebensphilosophie, vor allem aber der Lektüre Nietzsches, ausbildete“.#10 Das in der Ästhetik des Jugendstils gehaltene Werk umfasst drei Teile und war maßgeblich für Rilkes Ruf als religiöser Dichter verantwortlich. – Sein Leben ist weiterhin unstet: Bereits 1904 hat er sich in Dänemark und Schweden für die schwedische Reformschule engagiert; es folgen Reisen u.a. nach Deutschland und Belgien, nach Capri, Paris und Venedig.

 

In Leipzig erstellt Rilke schließlich 1910 die Schlussfassung seines einzigen Romans. Im Mittelpunkt von Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge steht ein 28-jähriger Däne, der in Paris als Dichter zu leben versucht:

„So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da.“ #11

Der Band ist nichts weniger als eine Zäsur. „Das Werk, das sich als erstes innerhalb der deutschen Literatur radikal vom realistischen Roman des 19. Jahrhunderts unterscheidet, kennt keine kontinuierliche Handlung mehr, noch einen Erzähler im herkömmlichen Sinne. Seine äußere Form bildet das fingierte Tagebuch einer ‚erfundenen Figur‘.“#12Das Buch bündelt aber zahlreiche Einflüsse aus Rilkes Leben, wie Kindheitserinnerungen, Reiseerfahrungen und Lektüren; heterogene Stoffe, die bisweilen nur lose miteinander verbunden sind und ein „offenes, aktives Rezeptionsverhalten“#13 bei der Lektüre verlangen. „Mit keinem anderen Werk gelang Rilke der Durchbruch zur literarischen Moderne überzeugender.“#14

 

Nach dem Brigge stehen Rilkes kommende Jahre ganz im Zeichen der 1923 erstveröffentlichten Duineser Elegien: „Sie wurden im Januar 1912 auf Schloss Duino an der Adria begonnen, wo Rilke als Gast seiner bedeutendsten Mäzenin, der Fürstin Marie von Thurn und Taxis, wohnte.“#15 Der Dichter unternimmt erneut zahlreiche Reisen, die ihn nach Italien, Spanien und nach Deutschland führen, wo er 1914 wegen des Kriegsausbruchs sesshaft werden muss. Seine sechsmonatige Militärdienstzeit leistet er 1916 im Wiener Kriegsarchiv ab. 1919 unternimmt er eine Vortragsreise durch die Schweiz; er lernt mit Nanny Wunderly-Volkart (1878–1962) eine hilfreiche Freundin kennen und führt 1920 eine Beziehung mit der Künstlerin Baladine „Merline“ Klossowska (1886–1969). 1922 ist der Gedichtzyklus abgeschlossen:

„Die Duineser Elegien gehören durch ihren eigenwilligen sprachlichen Duktus, ihre kühne Metaphorik, ihre verschlüsselte Symbolik und durch ihren oft entlegene Bezüge und Überlieferungen aufnehmenden Gedankengehalt zu den am schwersten zugänglichen Werken der neueren deutschen Lyrik.“#16 Die angestrebte Sinngebung des menschlichen Daseins jenseits etablierter religiöser Systeme hat „zahlreiche, sich oft widersprechende Deutungsversuche hervorgerufen“.#17

 

1923 – parallel zu den Elegien erscheinen auch die Sonette an Orpheus – beschäftigt sich Rilke mit Übertragung der Lyrik von Paul Valéry (1871–1945). Krankheitserscheinungen machen einen ersten Aufenthalt im Sanatorium Val-Mont erforderlich, in das er aufgrund einer Leukämie regelmäßig zurückkehrt. Er stirbt dort am 29. Dezember 1926.

 

Rainer Maria Rilke – dessen Werke oft vertont worden sind – ist ein höchst präsenter Klassiker, dem auch im Internet vielfach nachgespürt werden kann, etwa auf den Seiten des Schweizerischen Rilke-Archivs (https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=165121) oder denen der Internationalen Rilke-Gesellschaft (http://www.rilke.ch/?page_id=109). Rilkes Werke können zudem online gelesen werden (http://www.zeno.org/Literatur/M/Rilke,+Rainer+Maria).

27.09.2021 Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Gunter Martens & Annemarie Post-Martens: Rainer Maria Rilke. Reinbek bei Hamburg 2008, S. 8.

2 Ebd., S. 36.

3 Ebd., S. 39.

4 Zit. n. Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875–1926. Erweiterte Neuausgabe, hg. v. Renate Scharffenberg. Frankfurt am Main und Leipzig 2009, S. 116.

5 Ebd., S. 152.

6 Brief vom 25. Juni1902 an Otto Modersohn. In: Rainer Maria Rilke: Briefe und Tagebücher aus der Frühzeit. 1899 bis 1902. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1933, S. 194–197; hier: S. 195.

7 Brief vom 5. Juni 1902 an Clara Rilke. In: Rainer Maria Rilke: Briefe und Tagebücher aus der Frühzeit. 1899 bis 1902. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1933, S. 184–187; hier: S. 185.

8 Martens: Rilke. Wie Anm. 1, S. 53.

9 Ebd., S. 57.

10 Kindlers neues Literaturlexikon, hg. v. Walter Jens, Bd. 14, München 1991, S. 150.

11 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt am Main 2004, S. 7.

12 Kindlers neues Literaturlexikon. Wie Anm. 8, S. 138.

13 Kindlers Literatur-Lexikon, hg. v. Ludwig Arnold, Bd. 13, Stuttgart 2009, S. 696

14 Ebd.

15 Killy-Literaturlexikon, hg. v. Wilhelm Kühlmann, Bd. 9, Berlin 2010, S. 649.

16 Kindlers neues Literaturlexikon. Wie Anm. 8, S. 142.

17 Ebd.