Rio Reiser

Reiser, Rio; geboren als Ralph Christian Möbius.

Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?

Geboren in Berlin am 9. Januar 1950
Gestorben in Fresenhagen am 20. August 1996

Am 16. Februar 1971 gibt ein zorniger, gerade 21 Jahre alter Berliner Musiker mit dem exotischen Künstlernamen „Rio Reiser“ dem Interviewer Peter Winkler von der B.Z. zu Protokoll:

Unsere Musik ist aggressiv, weil junge Menschen, mit denen wir in Kontakt kommen möchten, erst einmal emotional bewegt werden müssen, ehe sie aufmerken. Andernfalls würden sie uns ja nicht einmal zuhören.

Peter Winkler: Aggressiv, kritisch und unverschleiert: die Berliner "Ton-Steine-Scherben". Eine Band macht ´Geschichten´.B.Z. 16.02.1971.

Die Debütsingle, Macht kaputt, was euch kaputt macht, ist da gerade auf dem eigenen Plattenlabel erschienen und die vierköpfige Gruppe mit dem wahlweise an Troja-Ausgräber Heinrich Schliemann oder einen DDR-Industriebetrieb angelehnten Namen Ton Steine Scherben auf dem Weg zur ersten ernstzunehmenden und stilprägenden „Agitrock“-Band der Bundesrepublik Deutschland. Es ist aber nicht zuvorderst die Aggressivität, die deutschsprachige Musiker*innen bis heute an Rio Reisers Texten und Musik fasziniert. Künstler*innen und Bands wie Blixa Bargeld, Jan Plewka, Echt, Freundeskreis, Die Sterne, Wir sind Helden und Nina Hagen haben gerade auch das sensible, poetische Erbe Rio Reisers durch eigene Coverversionen durch die Jahrzehnte weitergetragen, teilweise auch für sich und möglicherweise gegen den Sinn des Komponisten und Dichters vereinnahmt.

 

Rio Reiser kommt als Ralph Christian Möbius am 9. Januar 1950 im Westteil Berlins als jüngster von drei Brüdern auf die Welt. Der Vater ist Ingenieur, weshalb die Familie ständig umziehen muss: Bayern, Baden-Württemberg, Hessen. Nirgendwo jedoch fühlt der junge Ralph sich heimisch. Nach dem Abbruch des Gymnasiums in Nürnberg beginnt er eine Ausbildung zum Fotografen und bringt sich gleichzeitig selbst das Gitarren-, Klavier- und Cellospielen bei. Erste Banderfahrungen sammelt er 1966 in der Gruppe seines späteren Scherben-Mitstreiters R.P.S. Lanrue. Seine Fotografenlehre bricht er ab und zieht zurück in seine Geburtsstadt Berlin. Hier gründet Möbius, der sich mittlerweile, als Hommage an den Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, „Rio Reiser“ nennt, 1970 zusammen mit Lanrue, Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel die Band Ton Steine Scherben.

Schnell erlangt man in der sich radikalisierenden linken Hausbesetzerszene Kultstatus: „Wir müssen hier raus! Das ist die Hölle! Wir leben im Zuchthaus!“, singt Reiser 1972 auf dem zweiten Scherben-Album „Keine Macht für Niemand“, geradeso, als wär‘s eine wütende Prophezeiung, und in der Tat: drei Jahre später machen er und seine Band Ernst und verlassen West-Berlin in Richtung nordfriesisches Niemandsland, 40 Kilometer nördlich von Husum, auf halber Strecke zwischen Flensburg und Sylt. Die zunehmend aufgeladene und unkontrollierbare Stimmung in Berlin sei Reiser zu Kopf gestiegen, erklärt sein Bruder Gert C. Möbius 35 Jahre später:

Das war ihm alles zu viel mit den ganzen Parteien und Benefiz in Berlin. Es waren damals einige Leute von der „Bewegung 2. Juni“ und der RAF in seinem Umfeld. Vorher waren das Freunde, mit denen er sich in Kneipen getroffen hat. Und plötzlich waren die im bewaffneten Widerstand, kamen mit Knarren an. Distanzieren war da nicht immer so einfach. Rio wollte auf keinen Fall in den Knast kommen.

Als einziges von allen Bandmitgliedern wird Reiser das abgelegene Exil, einen alten Bauernhof in Fresenhagen mit 18 Zimmern, den die Band für 50.000 DM ersteigert, #1 zu Lebzeiten nicht mehr gegen einen neuen Wohnort eintauschen. Er, der sich bis jetzt nirgendwo zuhause gefühlt hat, scheint seine endgültige Heimat gefunden zu haben.

In Fresenhagen entstehen in den nächsten Jahren neben dem Doppelalbum „Wenn die Nacht am tiefsten …“, auf welchem sich Rio klar vom Agitrock früherer Jahre ab- und einer bislang ungekannten Innerlichkeit zuwendet, zahllose weitere Projekte: Theaterstücke, Kinderplatten, Hörspiele. Zwischen 1981 und 1985 folgen zwei weitere Scherben-Alben und verlustreiche Kontertourneen, dann löst sich die Gruppe endgültig auf. Rio Reiser bleibt als einziges Bandmitglied zurück auf dem Hof in Fresenhagen.

Die letzten zehn Jahre vor seinem Tod werden zu seinen erfolgreichsten. Seine Soloalben „Rio I.“ (1986), „Blinder Passagier“ (1987), „***“ (1990), „Durch die Wand“ (1991), „Über alles“ (1993) und „Himmel und Hölle“ (1995) spalten zwar die Fans aus alten Scherben-Tagen, verhelfen dem hochverschuldeten Komponisten jedoch aus großer finanzieller Not. Gleichzeitig verschlechtert sich sein Gesundheitszustand zusehends. Am 20. August 1996 verstirbt Rio Reiser mit nur 46 Jahren in Fresenhagen. Sein Leichnam wird auf dem Grundstück beigesetzt, welches sich in den kommenden Jahren zum Wallfahrtsort aller Scherben- und Reiser-Fans entwickelt. Das „Rio-Reiser-Haus“ wird vereinsmäßig als Tagungsstätte, Begegnungsort, Aufnahmestudio, Konzertort und Museum weiterbetrieben. Kein leichtes Unterfangen, wie Vereinsvorsitzender Gert Möbius ernüchtert zugibt: „Es ist schwer, sich in Nordfriesland einzubringen. Weil die Leute da kulturell nicht so interessiert sind.“ #2

Als 2010 die Schließung infolge explodierender Unterhaltskosten droht, fragt der Verein bei der schleswig-holsteinischen Landesregierung um Unterstützung an, allerdings vergebens, und so geht der Hof Fresenhagen Anfang 2011 in die Zwangsversteigerung. Eine Pädagogin erhält den Zuschlag und macht aus dem geschichtsträchtigen Ort eine Jugendhilfeeinrichtung, die bereits 2014 ebenfalls aufgelöst wird.

Rios sterbliche Überreste werden am 11. Februar unter großem medialen Aufsehen nach Berlin-Schöneberg umgebettet. „Das RIO-REISER-HAUS in Fresenhagen gibt es nicht mehr“, steht seitdem auf der Homepage des Rio Reiser Haus e.V.. So ganz herumgesprochen hat sich dies jedoch allem Anschein nach noch nicht: Auf einschlägigen Reiseportalen lassen sich mittlerweile Übernachtungen im „ehemaligen Rio Reiser Haus“ buchen: „In Stadum in Schleswig-Holstein bietet das Trustges Rio Reiser Haus Unterkünfte mit kostenfreien Privatparkplätzen sowie Zugang zu einer Sauna.“#3

Über den Namensgeber und ehemaligen Besitzer der Unterkunft erfährt man nichts.

28.5.2021Jens Raschke