Detlef Kuhlbrodt

Kuhlbrodt, Detlef

Journalist und Chronist melancholischer Berliner Szenen

Geboren in Bad Segeberg am 25. August 1961

Detlef Kuhlbrodt gehört zu den Autor*Innen, die die Provinzialität Schleswig-Holsteins schnell hinter sich gelassen haben: Sein schriftstellerisches Betätigungsfeld ist die Metropole Berlin, die er seit den 1980er Jahren in der taz und an anderen Orten (darunter zwei Buchveröffentlichungen) beschreibt. Geboren wurde er 1961 in Bad Segeberg in eine kleinbürgerliche Familie, über deren „ambivalentes, fragiles Klassenbewusstsein“ #1 er später geschrieben hat:

Mein Vater war Arbeiter. Er war Heizungsmonteur. Das war immer wichtig. Man sollte sich daran erinnern, dass man Arbeiterkind war und dass Arbeiter und Angestellte in völlig unterschiedlichen Welten lebten und später: dass es ein großes Privileg war, als Arbeiterkind auf das Gymnasium zu gehen.

Nach Abitur und Zivildienst zog Kuhlbrodt nach Berlin, um an der Freien Universität Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften, Religionswissenschaften sowie Philosophie zu studieren. In den Jahrzehnten, die er seitdem in der Stadt verbracht hat, hat er sich zu einem ihrer hellsichtigsten Beobachter entwickelt: Radikal subjektiv, emotional und mit einem untrüglichen Blick für die kleinen Dinge, die gerade wegen ihrer Alltäglichkeit und Unscheinbarkeit ihre Wirkung entfalten können. In den Worten von Frank Schäfer aus dem Tagesspiegel:

Detlef Kuhlbrodt denkt sich nichts aus. Er hält die Augen offen, erlebt einfach und schreibt dann auf, was die anderen sofort wieder vergessen, weil es keine Pointe hat und meistens keine große Sache ist. Weil es oft überhaupt keine Sache ist, sondern ein bestimmtes Gefühl, ein Geruch, eine Gemütslage oder Reflexion.

Kuhlbrodts Reflexionen, die meistens in der taz, aber auch in etlichen anderen Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, sind oft tief melancholisch und immer von dem Wissen erfüllt, dass sie selbst ebenso flüchtig sind wie die Momente, die sie beschreiben:

… Am späten Nachmittag waren wir vom Südstern her die Gneisenaustraße Richtung Yorckstraße gegangen. Es hatte ganz seltsam ausgesehen, wie die abendliche Sonne durch die Bäume hindurch auf den Bürgersteig geschienen hatte. Das Pflaster hatte golden geleuchtet (Da hätte man ja gleich nach Heidelberg ziehen können …). Ich überlegte kurz, ob ich lieber gucken oder archivieren wollte, entschied mich fürs Fotografieren, rannte nach Hause; und als ich wieder zurück war, sah’s dann nicht mehr ganz so wunderschön aus, sondern doch wieder wie Berlin, ganz normal so im Sommer.

Aus der Betonung des Ephemeren und Alltäglichen ergibt sich eine natürliche Nähe zur Ästhetik des Blogs, und es ist daher nur folgerichtig, dass Kuhlbrodt sich auch dieser Publikationsform angenommen hat: Von 2006 bis 2013 für die taz und später für das Logbuch des Suhrkamp-Verlags. Hier können die Texte auch im wunderbar funktionierenden Zusammenspiel mit Fotografien des Autors wahrgenommen werden.

In einer Buchveröffentlichung gibt Kuhlbrodt dem von ihm gepflegten Genre den treffenden (aber in einem späteren Buch nicht fortgeführten) Namen „Singles“:

Ich fand es schön, daß die Texte zwischen klassischen Kulturtexten, Rezensionen etc. standen – halb versteckt im Kulturteil des Lokalteils einer politischen Tageszeitung – und aktuell erschienen. Sie waren für mich kein literarisches, sondern ein tagesaktuelles Genre. Literatur war für mich, wie für viele aus meiner Generation, lange eher ein Schimpfwort gewesen. Das klang schon so völlig blöd, affektiert und wichtigtuerisch. Musik dagegen war okay. So leicht größenwahnsinnig stellte ich mir manchmal vor, daß die Szenen Singles seien.

Detlef Kuhlbrodt: Eine Kammer links unten, unaufgeräumt. In: Morgens leicht, später laut. Singles. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 123-125, hier S. 124.

Auch wenn seine Aufmerksamkeit in den allermeisten Fällen Berlin gilt, spielt auch Bad Segeberg mit seiner „klaustrophobische[n] Enge“ #2 in Kuhlbrodts Texten eine gewisse Rolle, meist im Zusammenhang mit Familienbesuchen:

Wenn man dort ist, scheint einem alles normal zu sein und die eigene Existenzform eher komisch; wieder zurück, ist es umgekehrt. Wir hatten auf einer Bank im Kurpark in der Sonne gesessen. Meine Mutter hatte unaufhörlich geredet. Auf dem Boden hatte stundenlang eine Krähe gestanden, die nicht mehr fliegen konnte. Das sei doch normal, daß unter den paar Tausend Krähen hier auch welche wären, die nicht mehr fliegen können, sagte mein Vater, der weniger geworden war, nachdem sie ihn aufgeschnitten hatten.

Detlef Kuhlbrodt: Sommeranfang (Wäre man doch ein Gummiball). In: Morgens leicht, später laut. Singles. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 41-42, hier S. 41.

2008 erhielt Detlef Kuhlbrodt für seine Texte den Ben-Witter-Preis.

21.5.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Detlef Kuhlbrodt: Die Sehnsucht nach der wahren Arbeit. Logbuch Suhrkamp, https://www.logbuch-suhrkamp.de/detlef-kuhlbrodt/die-sehnsucht-nach-der-wahren-arbeit/

2 Detlef Kuhlbrodt: Umsonst und draußen. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 33.