James Krüss

Krüss, James Jacob Hinrich; Pseudonym(e): Markus Polder; Felix Ritter.

Insulaner und Weltbürger.

Geboren auf Helgoland am 31. Mai 1926
Gestorben auf Gran Canaria am 02. August 1997

1926. Am 31. Mai, einem Montag, vier Tage nach Vollmond, auf der Insel Helgoland geboren als erstes Kind des Elektrikers Ludwig Krüss und seiner Ehefrau, der Hummerfischertochter Margareta, geb. Friedrichs. Getauft auf die Namen James Jacob Hinrich.

„James Krüss über sich selbst“, in: James Krüss: Historie von der schönen Insel Helgoland. Husum 2007, S. 111

So sachlich unterkühlt lässt James Krüss 1988 in einem autobiografischen Abriss sein eigenes Leben beginnen. Er ist 62 Jahre alt und zählt mit Buchtiteln wie Mein Urgroßvater und ich (1957), Timm Thaler oder Das verkaufte Lächeln (1962), dem Radiohörspiel Der Sängerkrieg der Heidehasen (1952) oder der Fernsehserie James‘ Tierleben (1965) längst, neben Erich Kästner, Ottfried Preußler, Michael Ende, Christine Nöstlinger, Janosch und Max Kruse, zu den meistgelesenen und produktivsten Kinder- und Jugendbuchautoren deutscher Sprache im 20. Jahrhundert.

Den Einfluss seiner Geburtsinsel Helgoland, ja, des Insularen überhaupt, auf sein Denken und seine Arbeit hat Krüss stets gerne betont:

Ich bin ja von 0 bis 16 Bewohner der Insel Helgoland gewesen, sehr intensiver Bewohner. Ich habe dort das Leben erlernt, auf dieser kleinen Insel, und das prägt sich ein, das verlernt man nie. […]
Inseln sind ein übersichtliches Gelände. Man kann sehen, wo eine Insel anfängt, man kann sehen, wo sie aufhört, und das hat sie mit einer guten Geschichte gemeinsam. Eine gute Geschichte fängt an und hört auf und hat einen Mittelpunkt, einen Höhepunkt. Inseln sind sehr ähnlich, insofern ähneln sich Geschichten und Inseln.

James Krüss in einem Fernsehinterview (1986), in: James Krüss oder Die Suche nach den glücklichen Inseln (2017). Dokumentarfilm von Martina Fluck

Helgoland taucht im gesamten literarischen Werk von Krüss immer wieder auf, schon gleich am Anfang seiner Karriere: Nach dem Beginn der alliierten Bombardements muss die Familie die Insel 1941 verlassen, zunächst nach Arnstadt in Thüringen, dann nach Hertigswalde in Sachsen. Nach dem Mittelschulabschluss beginnt Krüss 1942 die Ausbildung zum Lehrer im schleswig-holsteinischen Lunden und Ratzeburg. 1944 meldet er sich freiwillig zur Luftwaffe. Nach Kriegsende führt er zunächst seine Ausbildung weiter, veröffentlicht aber nebenbei auch schon sein erstes Buch, Der goldene Faden.

Im Herbst des Jahres 1948 […] wohnte ich, 22 Jahre alt, bei meinem ersten Verleger Max Bruhn in Reinbek bei Hamburg. Ich hatte die Prüfung für das Lehramt an Volksschulen gerade bestanden, aber nicht vor, den Beruf des Lehrers auszuüben, da mein Wunsch, entweder auf einer Hallig oder in einem Zirkus Lehrer zu werden, nicht erfüllt werden konnte. So beschloss ich kühn, mich als freier Schriftsteller zu etablieren, mir aber zur Sicherheit ein kleines regelmäßiges Zubrot zu verdienen durch ein Monatsblatt für die von ihrer Insel vertriebenen Bewohner meiner Heimatinsel Helgoland, die kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch zerstört worden war und nun englischen Bombenflugzeugen als Übungsziel diente. Auf diese Weise konnte ich den verstreut auf dem Festland lebenden Helgoländern helfen, den Zusammenhalt untereinander zu wahren, und zugleich, wenn auch zunächst sehr moderat nur, aufmerksam machen auf das Unrecht, das der Insel und ihren Bewohnern durch die Bombenwürfe zugefügt wurde.

Krüss: Historie, S. 106

Die Zeitschrift Helgoland, ein Mitteilungsblatt für Hallunner Moåts #1 erscheint bis 1956 ganze einhundertmal; darin fasst Krüss in insgesamt 612 Versen die ungebrochene Liebe zu seiner Heimatinsel und ihren einstigen Bewohner*innen in (zuweilen unverfroren idealisierende) Reime:

Was ein Helgoländer ist,
Das ist schwierig zu ergründen
Und mit Logik nur und List
Nach und nach herauszufinden.
[…]
Wer das Meer liebt und den Wind
Und die steilen Klippenränder,
Die so karg bewachsen sind,
Ist noch lang kein Helgoländer.
[…]
Wer die Menschen menschlich sieht,
Ohne Orden und Gewänder.
Weder Gott noch Menschen flieht,
Ist ein Muster-Helgoländer.

Krüss. Historie, S. 48

In vielen seiner Kinder- und Jugendbücher ist Helgoland – mal mehr, mal weniger offensichtlich – Schauplatz der Handlung, sei es in seinem ersten Kinderbuch, Der Leuchtturm auf den Hummerklippen, mit dem er seinen Durchbruch feiert, sei es in den sprachakrobatischen Geschichten In Tante Julis Haus (1969), in denen es sogar Krüss‘ berühmteste Romanfigur auf die kleine Insel verschlägt: Timm Thaler.

1966 siedelt James Krüss dauerhaft von Bayern, wo er seit sechs Jahren lebt, nach Gran Canaria über, um dort mit seinem heimlichen Lebensgefährten unbehelligt zu wohnen. „SPRUNG AN DIE AFRIKANISCHE KÜSTE“, schreibt er 1988 rückblickend, „Spanisch gelernt. Nur noch zu Besuchen in Europa.“ #2 So etwa 1976, als er seinen 50. Geburtstag auf Helgoland, sowie anschließend im Köpenicker Schloss in der DDR feiert.

Nach zahlreichen weiteren Veröffentlichungen und Auszeichnungen, beginnt James Krüss 1979 mit der Arbeit an seinem großen autobiografischen, als Trilogie konzipierten Erwachsenenroman Der Harmlos, von dem fast ein Jahrzehnt später immerhin der erste Band erscheint: Frühe Jahre. Das 500 Seiten starke Werk schildert in poetisch starker, sinnlicher Sprache die Erlebnisse des jugendlichen Insulaners Jacques (Krüss‘ klar erkennbares Alter Ego) vor dem breiten Panorama der zeitgeschichtlichen Umbrüche der Jahre 1942 bis 1949. Zu Beginn besucht Jacques mit dem Schiff seine Heimatinsel, wo noch immer seine Tante Annabelle lebt. Es sind Sommerferien.

Die Insel, die der Dampfer anfuhr, heißt, du weißt es, Mario, iis lunn im Mund ihrer Bewohner: unser Land; denn nur der ungleichmäßig dreieckige rote Felsklotz ist in diesem Teil des Nordmeers sichtbar, dazu ein Unterland zu dessen Füßen und östlich vorgelagert eine weiße Düne. Die Festlandsküste sieht man nicht.
Die Häuser dieser Insel waren damals, von einigen großen Kästen aus der Zeit plötzlichen Reichtums abgesehen, klein: Sie duckten sich im Wind. Die Außenwände waren weißgekalkt; ein schwarzer Teersaum täuschte Fundamente vor; ein rotes Satteldach saß obenauf. Die Türen, meist nach Süden hin zu öffnen, strich man, wie auch die Fensterrahmen, grün. Im Winter roch es hier nach Dörrfisch, der an Leinen windgetrocknet wurde, nach Grog mit sehr viel Rum und wenig Wasser und, wenn das Jahr zu Ende ging, nach Schmalzgebäck. Im Sommer roch’s nach frischem Fisch und Krebsen, nach Tang und Salz, Niveacreme und Sonnenöl.

James Krüss: Der Harmlos. Frühe Jahre. Des Romanes erster Teil. Hamburg 1988, S. 25

Seine weitere Odyssee führt Jacques (der jetzt „Jockel“ heißt) an die Front und von da wieder nordwärts, bevor er im dritten Kapitel (nun als „Jäckie“) zunächst in „C-Hafen“ landet und dort beunruhigende Nachrichten von der Heimatinsel erhält:

Jäckie erfuhr so auf dem Deich von seinem langen Onkel Reim, der täglich ja im Hafen war, dass man acht volle Monate lang Torpedos, Wasserbomben und Granaten, dazu Minen und Sprengköpfe – Waffenvorrat, den man im Krieg nicht mehr hatte verpulvern können -, dass man all dies zur Insel hingeschafft und in die Felsbunker sprengfertig eingelagert habe. […]
Es war ein strahlend blauer Frühlingstag, an dem die Sprengung stattfinden sollte. Das Gras der Deichböschung, auf der die Kinder und die Hunde tollten, war schon saftig grün. Die Backsteinbauten nahe der „Alten Liebe“ leuchteten feuchtrot. Und über Stadt und Strom standen vereinzelt unschuldige kleine weiße Wolken.
Doch all die Heiterkeit ringsum ließ den Gedanken, dass die Insel untergehen könnte, nun erst recht düster erscheinen; denn sie erinnerte an froh genossene Inseltage der Vergangenheit mit weißen Dampfern draußen auf der Reede und einer Landungsbrücke voller bunter Fahnen – was alles es in Zukunft nicht mehr geben würde, falls die geplante Sprengung den Erfolg hatte, den ihre Urheber erwarteten.

Ebd., S. 429 f.

Doch die Sprengung scheitert an der geologischen Beschaffenheit der Insel, und Jäckie dichtet spontan eine kleine Ode an seine alte Heimat:

Eine Insel, lang bewohnt,
Wird gesprengt und nicht geschont.
So dass jeder denkt: Auwei,
Mit der Insel ist’s vorbei.
[…]
Doch des Menschen raue Spur
Glättet oftmals die Natur.
So auch hier: Die Sprengung biss
In den Felsen manchen Riss.
Doch die Insel – staunt und seht! –
Strahlt im Sonnenglanz und steht.

Ebd., S. 437 f.

James Krüss reist ein letztes Mal 1996 nach Deutschland, wo er zu seinem 70. Geburtstag den Bundesverdienstorden Erster Klasse erhält. Am 2. August 1997 verstirbt er in seiner Wahlheimat Gran Canaria und wird am 27. September vor der Küste Helgolands auf See bestattet. Auf seiner Heimatinsel erinnert ein Museum an ihren berühmtesten Sohn. Zahlreiche Schulen von Bayern bis Schleswig-Holstein tragen noch immer seinen Namen.

Doch nun schweige Lob und Spott
Und das Lied, das ich vollbrachte.
Helfe uns der liebe Gott,
Dass der Mensch den Menschen achte.
Dass die Insel wieder blüht
Unterm Schutze seiner Hände
Und dereinst wie dieses Lied
Sanften Geistes ende.

Krüss: Historie, S. 103

28.5.2021Jens Raschke

ANMERKUNGEN

1 Halluner Moåts = Helgoländer Freunde

2 Krüss: Historien, S. 114