Hans-Jürgen Heise

Heise, Hans-Jürgen. Geburtsname: Hans-Jürgen Scheller; Pseudonyme: Hans-Werner Krüger; Werner Birk

Dichter und Essayist der Verknappung

Geboren in Bublitz (heute Bobolice, Polen) am 06. Juli 1930
Gestorben in Kiel am 13. November 2013

Mit seinem lyrischen und essayistischen Werk nimmt Hans-Jürgen Heise in der deutschen Nachkriegsliteratur eine besondere Stellung ein. Er war nie einer Schule oder Gruppierung zuzurechnen und stand mit seinem Œuvre für sich selbst. Das hat womöglich schon mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit zu tun, die seine Empfindlichkeit gegenüber Vereinnahmungen und zeitgeistigen Versuchungen erklären könnten. Auf die Frage eines Interviewers „Schotten Sie sich auch als Literat deshalb ab, weil sie die Wiederholung solcher Verletzungen befürchten?“ antwortete Heise:

In meiner Kindheit findet sich sicherlich der Schlüssel zu meiner Empfindlichkeit gegenüber Ungerechtigkeiten. Aber mein Abgrenzungsverlangen gewissen Schriftstellern und Trendsettern gegenüber resultiert nicht aus der Furcht vor Konfrontationen, sondern aus dem Anspruch, meine Identität zu bewahren. Mir ging und geht es nicht darum, Erfolg zu haben. Dann bräuchte ich mich nur nach Tagesmoden oder den Driften des Zeitgeistes auszurichten. Ich will jedoch Beachtung finden mit dem, was ich als meinen persönlichen Faden im Wirkwerk kollektiver Wahrheit bezeichnen möchte.

Kieler Nachrichten vom 26. August 1998.

Das Interview fand zum Erscheinen von Heises Autobiographie Die Süße des Fliegenpapiers (Landpresse Verlag, Weilerswist) statt, die nur die ersten 30 Jahre seines Lebens behandelt und vor der 1961 geschlossenen Ehe mit der Lyrikerin Annemarie Zornack Halt macht. Die ersten Jahrzehnte waren für Heise die am meisten bewegten: Er verlor früh seine Mutter, verbrachte seine Kindheit in Bublitz, erlebte später in Berlin Bombennächte und versuchte nach dem Krieg als Autor und Lyriker in Ost-Berlin Fuß zu fassen. Schnell geriet er mit der DDR-Obrigkeit aneinander und floh unter abenteuerlichen Umständen in den Westteil Berlins, wie Markus Huber in seinem Nachruf schreibt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. November 2013).

Neben Essaybänden, Reiseprosa, Übersetzungen und Rezensionen hat Hans-Jürgen Heise vor allem Lyrik verfasst, die in vielen Einzelbänden und einigen Sammelbänden erschienen ist – unter anderem 2002 bei Wallstein in dem Band Gedichte und Prosagedichte. 1949-2001. Heises Gedichte entzünden sich oft an einer konkreten Erfahrung, die die Sinne in einen Konflikt stürzt und pointierte Metaphern hervorruft – etwa, wenn Natur und Technik unversöhnlich aufeinanderprallen wie in dem Gedicht Betonversiegelt (aus Heiterkeit ohne Grund, Neuer Malik Verlag, 1996):

Habe früher (auch ich
war in Arkadien)
im Königreich
der Zikaden gewohnt

Und brauche nun
(betonversiegelt
der Pinienhain) einen By-
pass für die Seele

Viele Gedichte Heises zeugen von der Zwiespältigkeit unseres heutigen Lebensgefühls – bis in die persönliche Sphäre hinein, in der das Individuum sich selbst nur als Illusion erlebt. Ein Beispiel dafür sind die im Jahr 2000 in der Eremiten-Presse erschienenen Gedichte unter dem Titel Ein Fax von Bashô. Matsuo Bashô, so klärt eine Anmerkung in dem Band auf, lebte von 1644 bis 1694 und gilt als Japans berühmtester Haiku-Dichter. Im Titel des Gedichtbandes schieben sich also zwei unterschiedliche Zeithorizonte (und Jahrhunderte) übereinander. Geschwindigkeit und die Überwindung räumlicher und zeitlicher Dauer, wie sie das Internet ermöglicht, steht hier der Sehnsucht nach Dauer gegenüber. Daraus entsteht eine Dialektik, die poetische Funken schlägt.

Poetologisch inspiriert sind Heises Gedichte von der Kürze des dreizeiligen Haiku, als dessen Vollender Bashô gilt. Von scheinbar flüchtiger Substanz, halten sie – wie ein Bernstein das von ihm umschlossene Insekt – eine Augenblickserfahrung als beständige Einsicht fest.

Häufig sind es biographische Erfahrungen wie das Altern, die Heise in den Gedichten des Bandes thematisiert, etwa in dem Vierzeiler Befremdlich:

Meine Kindheit geht immer noch
in Barfußbeinen
neben meinen schwarzen
blankgeputzten Schuhen her

Oder in dem einem Haiku ähnelnden Gedicht Old man in a green month:

Ein Sommer blüht hinter ihm her
und kriegt ihn nicht ein / ihn
mit seinen Novembergedanken

Hier scheint etwas von der Melancholie des Abschieds auf, eine Ungleichzeitigkeit des älter gewordenen Bewusstseins, das an der Gegenwart nur noch retrospektiv teilhat. Im weltgeschichtlichen Maßstab sind es die verschiedenen Zeitalter, die im Gedicht simultan zur Anschauung gebracht werden, so etwa im titelgebenden Siebenzeiler Mehrere Zeitalter:

Ich kam zurück
aus der Jungsteinzeit
und fand ein Fax vor
von Bashô: Der Mond
überm Shinto-Schrein
keine Rakete
kann ihn erreichen

Wie ein roter Faden zieht sich durch Hans-Jürgen Heises Gedichte die Frage nach der „condition humaine“. Globalisierungsdruck und Verlust der Identität sind Leitmotive in zahlreichen Gedichten. Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik entgleitet dem Menschen und verbannt ihn in die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers.

„Wir müssen uns damit arrangieren, daß ‚wir selbst‘ quer zu den Beschleunigungsprozessen stehen, die wir technologisch in Gang gesetzt haben“, heißt es in einem Zitat des Philosophen Norbert Bolz, das Heise dem Gedicht Fortschritt als Motto voransetzt. Mit der Ersetzung aller traditionellen Wertsysteme durch das Paradigma der technologischen Beherrschbarkeit werden auch die metaphysischen Gewölbe eingerissen. Und selbst die Ebene der Ästhetik bleibt von der allgemeinen Nivellierungstendenz nicht ausgespart. Die Schönheit wird der cartesianischen Klarheit, der Clarté geopfert, wie ein weiteres Gedicht betitelt ist:

Die Mathematik
hat eine Autopsie
der Schönheit vorgenommen

Seither
ist die Farbe Blau
eine Sinnestäuschung
…und das Herz

dümpelnder Grundanker
verliert sich
im Bodenlosen

Verloren zu gehen droht schließlich der Einzelne, der bereitwillig in der „Sphäre virtueller Schemenhaftigkeit“ einrichtet, wie Heise es in seinem Nachwort befürchtet. „Das Individuum – Eine Fata Morgana?“ ist die bange Frage, auf die der Autor zumeist desillusionierende Antworten gibt.

Hans-Jürgen Heises essayistisches Werk steht gleichberechtigt neben seinem lyrischen Schaffen, und die Grundthemen und Leitmotive, die in der Poesie artikuliert werden, beschäftigen den Dichter auch in seinen Essays. Unter den veröffentlichten Bänden sind hier unter anderem zu erwähnen Einen Galgen für den Dichter. Stichworte zur Lyrik (Neuer Malik Verlag, 1990) und Wenn das Blech als Trompete aufwacht (Kowalke & Co. Verlag, 2000).

Gleich zu Beginn des bei Kowalke erschienenen Bandes geht Heise auf einen der wichtigsten Anreger der modernen Poetik und des modernen Denkens ein, Arthur Rimbaud. Mit der Verve eines Fanfarenstoßes hatte der im Jahre 1871 siebzehnjährige Rimbaud im ersten der beiden berühmten „Seher“-Briefe geschrieben: „Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Man müßte sagen: Es denkt mich… ICH ist ein Anderes.“ Wenig später, im zweiten Brief heißt es: „Wenn das Blech als Trompete aufwacht, ist es nicht selber daran schuld.“ Hier tritt das Ich nicht mehr als Herr im eigenen Hause auf, es erfährt sich als Konstrukt, das von unbewussten Quellen gespeist wird. Es erlebt seine Dissoziation in multiple Rollen und Episoden. Hans-Jürgen Heise verfolgt dieses Grundmotiv modernen Denkens weiter am Beispiel Ezra Pounds, T.S. Eliots, Gottfried Benns, Tomas Tranströmers oder auch Fernando Pessoas.

Zum Motiv des zerrissenen und ambivalenten Individuums treten andere Sujets hinzu, die Hans-Jürgen Heise in den Schattenrändern der Aufklärung (so der Titel einer früher publizierten Aphorismensammlung) ansiedelt. Einer der Grundgedanken ist die Verkehrung des Fortschrittsideals, mit dem das Projekt Aufklärung startete. Statt den Menschen von naturgegebenen Behinderungen und selbstauferlegten Fesseln zu befreien, überantwortet es seine Existenz technologischen und konformistischen Zwängen. Heise führt hier Günter Eich als Zeugen an: „Die Welt ist in ihrer Meßbarkeit erweitert, in ihrer Innigkeit verkleinert worden.“ So lautet das maßgebliche Zitat, das Heise dem Essay-Band als Motto voranstellte.

Wie bei jeder persönlich zusammengetragenen Auswahl treten Wahlverwandtschaften zwischen Sammler und Versammelten zu Tage. Dies wird deutlich in der poetologischen Beurteilung etwa von Federico Garcia Lorca, Pablo Neruda oder William Carlos Williams. Stets sind es die kurzen, fragmentarischen Gedichte, die auf kaum mehr Aussagbares reduzierten Verse, die Heise schätzt. In der Verknappung, in dem magischen Wort, das dem Verstummen gerade noch entrissen wird, sieht Heise die Größe und Glaubwürdigkeit moderner Lyrik gewahrt.

5.12.2021 Michael Roesler-Graichen