Margarete Böhme

Böhme, Wilhelmine Margarete Susanna; geboren als Wilhelmine Margarete Susanna Feddersen. (Auch: Margarete Schlüter). Pseudonym(e): Ormános Sandor.

Sozialkritische Schriftstellerin mit einem Welterfolgs-Buch

Geboren in Husum am 8. Mai 1867
Gestorben in Hamburg-Othmarschen am 23. Mai 1939

Tante Lehnsmann brachte mir gestern das Tagebuch als verspätetes Konfirmationsgeschenk. Es sei so sinnig für ein junges Mädchen, sagte sie. Und so billig, dachte ich. Aber nun es einmal da ist, will ich es auch benutzen. Vielleicht entdecke ich dabei noch schriftstellerisches Talent in mir.

Margarete Böhme: Tagebuch einer Verlorenen. Von einer Toten. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hanne Kulessa. Frankfurt am Main 1989, S. 11.

Schriftstellerisches Talent brauchte Margarete Böhme bei sich nicht mehr zu entdecken, als sie 1905 das Tagebuch mit dem Untertitel Von einer Toten veröffentlichte. Die angeblich aufgefundenen, überarbeiteten und dann von Böhme herausgegebenen Aufzeichnungen erregten großes Aufsehen, weil sie sich mit dem Reizthema Prostitution beschäftigen: Thymian Gotteball, eine Apothekertocher aus Eiderstedt, wird mit 15 Jahren geschwängert und macht nach der Geburt des Kindes als selbstbewusste Prostituierte Karriere. 1929 von keinem Geringeren als G.W. Pabst (1885–1967) mit der populären Schauspielerin Louise Brooks (1906–1985) in der Hauptrolle verfilmt, ist das Buch bis heute Böhmes bekanntester Titel geblieben.

Margarete Böhme wurde als Wilhelmine Margarete Susanna Feddersen 1867 in Husum geboren, wo sie Kindheit und Jugend verbrachte und mit siebzehn Jahren ihre erste Erzählung veröffentlichte. Weitere Novellen und Fortsetzungsromane für Zeitungen und Zeitschriften schlossen sich an. Böhme war als Reporterin für die norddeutsche und österreichische Presse tätig und heiratete 1894 den Zeitungsverleger Friedrich Theodor Böhme, mit dem sie in Boppard wohnte; die Ehe wurde 1900 geschieden. Ab 1902 lebte sie als Journalistin und Schriftstellerin mit ihrer Tochter in Berlin-Friedenau und veröffentlichte dort 1903 unter dem Titel Im Irrlichtschein das (wahrscheinlich) erste Buch unter ihrem Namen. Aufgrund knapper Honorare zu ununterbrochener Publikation gezwungen, schrieb sie in rascher Folge weitere Unterhaltungsromane und erlebte zwei Jahre später mit dem angeblich authentischen Tagebuch einer Verlorenen den Durchbruch: „Mit einer Gesamtauflage von 1,2 Millionen Exemplaren und Übersetzungen in 14 Sprachen ist es nach Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues das seinerzeit erfolgreichste deutschsprachige Buch.“ #1 Dies hatte auch mit der Fiktion eines real existierenden Dokuments zu tun. Hanne Kulessa schreibt in ihrem Nachwort:

Damals wie heute ist der Stempel der Authentizität offensichtlich notwendig, um bestimmte Dinge veröffentlichen zu können, sei es, um sich vor der moralischen Entrüstung der Philister zu schützen, sei es, um die Lust auf die mit den Bekenntnissen meist einhergehenden pikanten Enthüllungen anzustacheln.

Hanne Kulessa: Nachwort. In: Margarete Böhme: Tagebuch einer Verlorenen, Frankfurt am Main 1989, S. 251–261, hier: S. 260.

Zwar wurde die „dokumentarische Glaubwürdigkeit“ des Buchs „früh angezweifelt“, #2 doch dies sollte dem Absatz des Buches nicht im Wege stehen – zumal die Diskussion über Jahrzehnte nicht abebben wollte. Im Buch notiert die Erzählerin über ihr auf Beobachtungen beruhendes Schreiben:

Der Doktor las gestern in meinem Tagebuch und meinte, ich hätte entschieden schriftstellerisches Talent. Es läse sich alles so glatt und hübsch. Mein Gott, ja, ich habe mich so daran gewöhnt, meine Erlebnisse gleichsam zu registrieren, daß es mir eine Freude macht, wenn ich was Besonderes habe, was ich eintragen kann. Ich wünschte mir nur, ich hätte mal etwas recht Gutes aufzunotieren.

Margarete Böhme: Tagebuch einer Verlorenen. Von einer Toten. Neu herausgegeben und mit enem Nachwort versehen von Hanne Kulessa. Frankfurt am Main 1989, S. 152.

In der Realität folgten Bearbeitungen für das Theater und drei Verfilmungen: 1912 durch Fritz Bernhardt, 1918 durch Richard Oswald und schließlich 1929 durch G.W. Pabst. Richard Oswald hat sich – ebenfalls 1918 – auch der 1907 erschienenen Fortsetzung angenommen: Ida Ibsens Geschichte. Ein Finale zum „Tagebuch einer Verlorenen“.

Insgesamt hat Margarete Böhme über vierzig Bücher veröffentlicht. Arno Bammé schreibt dazu:

Völlig zu Unrecht wurde sie in ihrem vielfältigen Schaffen auf den ersten, alles überragenden Erfolgstitel reduziert. Zwar ist das Tagebuch für Böhmes Romane und Novellen insofern charakteristisch, als sich darin akribische Materialsammlung und gefällige Form der Darstellung in selten vorbildlicher Weise verbinden. Aber beides findet sich auch in den anderen Romanen der Husumerin.

Arno Bammé: Margarete Böhme. Auf Augenhöhe mit Remarque und Zola. In: Husumer Nachrichten, 19. November 2009.

Nach Bammé sind es „Authentizität des geschilderten Geschehens, gesellschaftskritischer Impetus und sozialpolitisches Engagement“ #3, die Böhmes Romane – zumal die späteren – auszeichnen würden. So beschäftigt sich W.A.G.M.U.S. (1911) – der Name steht für „Warenhaus-Aktiengesellschaft Müllenmeister und Sohn“ – am Beispiel des Berliner Kaufhauses Wertheim kritisch mit der Konsumgesellschaft, während Christine Immersen (1913) den Arbeitsalltag einer Telefonistin beleuchtet. Der Halligroman Wind und Wellen (1919) hingegen behandelt zwischenmenschliche Konflikte, die sich aus der Kollision zwischen tradierter bäuerlicher Lebensart und moderner großstädtischer Kultur ergeben. Dabei steht der Titel des Romans nicht „für Naturereignisse in der durch Flut und Ebbe und durch weitere Unbilden der Nordsee geprägte Halligwelt“, sondern „für die Stürme des Lebens, für das Auf und Ab in den Beziehungen der davon betroffenen Menschen“ #4. Die Handlung spielt 1914. Allerdings: „Sehr merkwürdig erscheint es, dass Margarete Böhme die Spannung dieser Zeit, nämlich den drohenden Weltkrieg, in keiner Weise thematisiert oder auch nur anklingen lässt.“ #5

Im Jahr 1911 hat Böhme in Berlin den Brotfabrikanten Theodor Schlüter geheiratet und ist – auch über dessen Tod hinaus – bis in die Mitte der 1920er Jahre als Schriftstellerin aktiv geblieben. Nach 1933 geriet sie weitgehend in Vergessenheit, zumal ihre Bücher im Nationalsozialismus keine Verlage mehr fanden. Erst 1994 ist ein erster Sammelband zu ihrem Werk erschienen. #6 Böhmes Bücher werden allerdings seit einigen Jahren wieder neu veröffentlicht.

Seit 2020 existiert der zweijährlich verliehene Margarete-Böhme-Jugendkulturpreis. Ausgezeichnet werden junge Menschen bis 27 Jahre für besondere Leistungen im Bereich der Künste, dem Kulturmanagement, der Kultur- und Kreativwirtschaft, der Kulturvermittlung oder der Regionalgeschichte. Der Preis ist mit € 1.000 dotiert; die feierliche Verleihung findet jeweils Ende Oktober im Schloss vor Husum statt. #7

20.4.2021Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Arno Bammé: Margarete Böhme. Auf Augenhöhe mit Remarque und Zola. In: Husumer Nachrichten, 19. November 2009. Auch im Internet unter www.husumer-stadtgeschichte.de/files/Bohme__Margarete.pdf.

2 Killy Literaturlexikon, Bd. 2, Berlin 2008, S. 60

3 Arno Bammé: Margarete Böhme. Auf Augenhöhe mit Remarque und Zola. In: Husumer Nachrichten, 19. November 2009,

4 Arno Bammé & Thomas Steensen: Nachwort. In: Margarete Böhme: Wind und Wellen. Ein Halligroman. Husum 2019, S. 191–236; hier: S. 198 f.

5 Ebd., S. 205.

6 Margarete Böhme – die Erfolgsschriftstellerin aus Husum, hg. v. Arno Bammé, München 1994.

7 Quelle: www.nordfriesland.de/Kultur-Bildung/Kulturarbeit-des-Kreises/Margarete-B%C3%B6hme-Jugendkulturpreis/.