Henning Ahrens

Ahrens, Henning.

Geboren am 22. November 1964 in Peine

Im Hinterland der Wirklichkeit

 

Er ist Lyriker, Erzähler und nicht zuletzt ein hochproduktiver Übersetzer – Henning Ahrens, dessen Roman Mitgift mit einem Platz auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021 gewürdigt wurde. Als vielseitiger und sprachsensibler Autor erschafft er ungewöhnliche Räume, die sich als „Reservat der literarischen Ideen und Experimente“ #1 bezeichnen lassen.

Ahrens wird am 22. November 1964 als Sohn eines Landwirts geboren; sein Studium der Anglistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Göttingen, London und Kiel schließt er 1997 an der Christian-Albrechts-Universität mit einer Doktorarbeit über die Lebensphilosophie des walisischen Dichters und Schriftstellers John Cowper Powys ab. Seine beiden Gedichtbände Lieblied was kommt (1998) und Stoppelbrand (2000) loten zunächst „die Möglichkeiten moderner Naturlyrik“ aus.#2 Beeinflusst von Peter Huchel und Johannes Bobrowski, verweigert der Autor allerdings die rückwärtsgewandte Idylle: „Zwischen die Schreie der vielstimmigen Vogelwelt mischt sich immer auch der Motorenlärm der Mähdrescher, und zwischen den Erlen zeichnet sich ein rauchender Fabrikschornstein ab.“ #3 Der zweite Band „vereint Gedichte mit erzählerischem Einschlag“ und bereitet das Erscheinen von Ahrens‘ erstem Roman vor; erst 2008 kommt der vorerst letzte Lyrikband Kein Schlaf in Sicht heraus.

Über sein Prosadebüt Lauf Jäger lauf! schreibt Ahrens, dass der Roman „im Hinterland dessen“ spielen würde, „was man Wirklichkeit nennt“. Ihm ginge es nicht um die „Schlichtheit alltagsgesättigter Prosa“, weshalb die „bildhaften, märchenhaften und kriminellen Elemente des Romans, seine Sprache sowie manche Ungereimtheiten und Widersprüche“ durchaus „Mittel zum Zweck“ wären. #4Lauf Jäger lauf! spielt „in einer märchenhaften Provinz“, wobei der Text „die klassischen Topoi der Schauerromantik“ zitiert. #5 Ahrens beschreibt eine Gruppe von „Widergängern“, die „im ominösen Ort Morrzow auf die Rückkehr ihres Erzfeindes Brandstetter“ warten; dabei dient der „zwischen Wahn und Wirklichkeit angesiedelte Handlungsraum“ #6 als Experimentierfeld und Spielwiese sprachlich ambitionierten Erzählens:

Ahrens jongliert mit Gattungen und Versatzstücken der Trivialliteratur, er zitiert, persifliert und komponiert Elemente der Fantastik, des Märchens und der romantischen Naturlyrik. Zusammengehalten wird die eigenwillige Verbindung aus Feuilletonroman und Jägerlatein durch eine rhythmisierte Sprache, einen eigenen, magisch-realistischen Stil und ein Konzept, das nicht nur die Handlung, sondern auch die Form des Romans wider den ästhetischen Zeitgeist stellt.

Michael Rölcke: Ahrens, Henning. In: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, hg. v. Wilhelm Kühlmann, Bd. 1, Berlin 2008, S. 57.

Diese Linie setzt Ahrens auch in dem mit Science-Fiction-Elementen spielenden Roman Langsamer Walzer (2004) fort: „Mit souveräner Materialbeherrschung verteidigt seine Prosa die Imagination und stärkt das archaische, musikalische Potential der Sprache.“#7Tiertage (2007) hingegen handelt von Menschen und Tieren in einem niedersächsischen Dorf; einer Kulisse, in der sich ein gewalttätiger „Wilder Mann“ breitmacht.

Ahrens, dessen immer leicht überbelichtet wirkender Stil vorzüglich zu der hitzeflirrenden Geschichte passt, hat mit dem Romaneine erstaunliche Mischung aus phantasievoller Tierfabel und poetischer Alltagsbeschreibung abgeliefert. Dabei bleiben dem Leser weniger die Taten des ‚Wilden Manns‘ als die luftigen Tonlagen des Buchs in Erinnerung, die der norddeutschen Landschaft nebst ihren Einwohnern ein unangestrengtes Denkmal zu setzen wissen.

 

Kai U. Jürgens: Von Hasen, Mördern und Menschen. Henning Ahrens und sein ungewöhnlicher Tierroman. In: Kieler Nachrichten vom 13. Juni 2007.

Die Nähe zur Provinz ist durchaus Programm. Ahrens:

Provinz klingt immer etwas heikel. Aber Tiertage habe ich bewusst in der Provinz spielen lassen, obwohl fast alle Figuren auch in der Stadt hätten leben können. In diesem Roman wollte ich unter anderem darstellen, wie sich die Provinz verändert hat, dass sie nicht mehr den Klischees entspricht. Und warum sollte man einen Raum, der den größten Teil Deutschlands ausmacht, nicht für die Literatur fruchtbar machen? Das bietet sich an. Ich möchte das auch weiter tun. Kann sein, dass ich mich im nächsten Buch wieder dieser Gegend bediene, auch weil ich sie vor Augen habe – das ist ein großer Vorteil.

 

„Die Literatur ist das langsame Umgraben – ob auf dem Land oder in der Stadt.“ Henning Ahrens im Gespräch mit Andreas Heckmann, Derk Frerichs und Anna Serafin. In: Am Erker 54, November 2007. [https://amerker.de/int54.php]

Nach dem Provinzlexikon. Geschichten vom Rand der Welt (2009; Illustration und Buchgestaltung: Jana Cerno) und dem „Trip“ Glantz und Gloria (2015) erscheint schließlich 2021 Mitgift. In diesem Roman arbeitet Ahrens fiktionalisiert die Geschichte seiner Familie auf, „die über viele Genera­tio­nen – das Buch geht zurück bis ins Jahr 1755 – einen Bauernhof im Niedersächsischen bei Peine bewirtschaftete“.#8 Eine zweite Erzählebene spielt im Jahr 1962; im Mittelpunkt steht ein Vater-Sohn-Konflikt. Das Buch markiert formal einen Bruch:

Man kann dieses Erzählen als traditionell, fast schon als vormodern bezeichnen. Wer die viel literarischeren, teilweise wilden und sich vom Realismus wegdrückenden bisherigen Romane dieses Autors kennt, mag sich auch wundern; er schreibt hier ganz anders. Doch das distanzierte, beinahe brechtisch nichtidentifikatorische Lesen, das sich einstellt, gewinnt einen eigenen Reiz.

 

Dirk Knipphals: Schuld und Milchdunst. In „Mitgift“ erzählt Henning Ahrens die Geschichte seiner bäuerlichen Familie, die einen Nazihintergrund hat. In: die tageszeitung, 28. August 2021 [https://taz.de/Neuer-Roman-von-Henning-Ahrens/!5794149/]

Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Parallel hierzu übersetzt Ahrens, wobei bereits 2012 „etwa sechzig Titel“ auf sein Konto gehen: „Das Übersetzen ist gewissermaßen die Pflicht, und sie strukturiert meinen Tag. Aber das Übersetzen kann sehr kraft- und zeitraubend sein, im Gegensatz zum Schreiben, das Kraft zurückgibt, wenn es gut läuft. Ich bin oft glücklich, wenn ich schreibe.“#9

Henning Ahrens ist für sein Werk mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Wolfgang-Weyrauch-Preis (1999), dem Friedrich-Hebbel-Preis (2001), dem Nicolas-Born-Preis (2009) und dem Bremer Literaturpreis (2016).

21.10.2021 Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Michael Rölcke: Ahrens, Henning. In: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, hg. v. Wilhelm Kühlmann, Bd. 1, Berlin 2008, S. 57.

2 Stephan Maus: Ahrens. Henning. In: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, hg. v. Thomas Kraft, Bd. 1, München 2003, S. 18–19, hier S. 18.

3 Ebd., S. 18f.

4 Henning Ahrens: Anstelle eines Halalis. In: Ders., Lauf Jäger lauf, Frankfurt am Main 2002, S. 255.

5 Stephan Maus: Ahrens. Henning, wie Anm. 2, S. 19.

6 Michael Rölcke: Ahrens, Henning, wie Anm. 1, S. 57.

7 Ebd.

8 Dirk Knipphals: Schuld und Milchdunst. In „Mitgift“ erzählt Henning Ahrens die Geschichte seiner bäuerlichen Familie, die einen Nazihintergrund hat. In: die tageszeitung, 28. August 2021 [https://taz.de/Neuer-Roman-von-Henning-Ahrens/!5794149/]

9 Ilka Kreutzträger: „Ich bin glücklich, wenn ich schreibe.“ Henning Ahrens kehrte nach 20 Jahren in der Stadt zurück in die Provinz und fand dort nicht nur Idylle. In: die tagenszeitung, 1. Januar 2012 [https://taz.de/Autor-Henning-Ahrens-ueber-die-Provinz/!5104164/]