Arno Schmidt

Schmidt, Arno

Der Avantgardist in der Heide

Geboren in Hamburg am 18. Januar 1914
Gestorben in Celle am 3. Juni 1979

Noch immer ist Arno Schmidt einer der „bekanntesten Unbekannten“ der deutschsprachigen Literatur, dessen ebenso vielseitiges wie vielschichtiges Werk zwar oft diskutiert, aber wenig gelesen wird. Dabei ist hinter der Fassade des misanthropischen Einsiedlers („The Germany can me furchtbar leckn !“ #1), der jahrelang im niedersächsischen Bargfeld an seinem Großroman Zettel’s Traum (1970) schrieb, ein unkonventioneller Geist, bildstarker Erzähler und pointenreicher Großhumorist zu besichtigen, dessen sprachliche Innovationskraft die Wirklichkeit auf einzigartige Weise erfasst. Aus der Perspektive Schleswig-Holsteins besonders interessant: Schmidt hat eines seiner Bücher in Tellingstedt in Dithmarschen spielen lassen.

Arno Schmidt wird am 18. Januar 1918 in Hamburg geboren. #2 Er macht 1933 sein Abitur in Schlesien und arbeitet als Buchhalter in einer Textilfabrik in Greiffenberg. Während des Zweiten Weltkriegs wird Schmidt zur Artillerie eingezogen; das Kriegsende erlebt er in englischer Kriegsgefangenschaft nahe Brüssel. 1946 arbeitetet er als Dolmetscher in einer englischen Hilfspolizeischule in der Lüneburger Heide; in diesem Jahr schreibt er die Erzählung Leviathan oder Die beste der Welten, die 1949 veröffentlicht wird. Inhaltlich ist die Schilderung um die dramatische Zugfahrt eines Soldaten nicht übermäßig weit vom gängigen Kanon der Nachkriegsliteratur entfernt. „Anders im formalen Bereich, da stellt Schmidt, mit seiner staccatohaften Schreibweise und der graphischen Anordnung des Textes (Raster-Technik) von Anfang an seinen Anspruch heraus, ein Neuerer zu sein“ und das nach 1945 vorherrschende Misstrauen gegenüber der Sprache ernst zu nehmen. #3

Nachfolgend entstehen – teils in Gau-Bickelheim (Rheinhessen), teils in Kastel an der Saar – Schmidts große Erzählungen, die sukzessiv veröffentlicht werden: Brand’s Haide, Schwarze Spiegel (beide 1951) sowie Die Umsiedler und Aus dem Leben eines Fauns (beide 1953). Bei der Niederschrift von Seelandschaft mit Pocahontas, die auf Erlebnissen bei einem Kurzurlaub am Dümmer See im Juni 1953 beruht, arbeitet Schmidt erstmals mit einem jener Zettelkästen, die im Spätwerk unentbehrlich werden. Den Lebensunterhalt sichern aber in erster Linie ungeliebte Übersetzungen, Zeitungsartikel und Radio-Essays; für Aufträge sorgen unter anderem Alfred Andersch und Helmut Heißenbüttel. Außerdem kann die Rolle von Alice Schmidt, die ihrem Mann unermüdlich assistiert, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden; sie hält ihm gelegentlich vor, „60% ihrer gemeinsamen Einkünfte würde de facto sie erwirtschaften“. #4

1955 wird Schmidt im Hinblick auf Seelandschaft mit Pocahontas – heute wenig nachvollziehbar – wegen „Gotteslästerung“ und der „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ angezeigt. Er siedelt nach Darmstadt um, weil er sich vom dortigen protestantischen Klima einen günstigeren Prozessausgang erhofft; tatsächlich wird das Verfahren eingestellt. Nachfolgend erscheinen seine Romane Das steinerne Herz (1956), Die Gelehrtenrepublik (1957) und Kaff auch Mare Crisum (1960). Letzterer dient als Scharnier zum Spätwerk: Die beiden Handlungsebenen – das Buch spielt hälftig 1959 in der Lüneburger Heide und 1980 auf dem Mond – sind im Satzbild deutlich voneinander unterschieden, die Sprache wird lautmalerisch wiedergegeben und typographische Zeichen dienen dazu, Mimik, Redepausen und die Gestik der Figuren wiederzugeben. 1958 ist Schmidt nach Bargfeld im Kreis Celle gezogen, jener Ort, mit dem er bis heute in Verbindung gebracht wird. Dort beginnt er um 1964 mit der Vorbereitung zu seinem „Über-Buch“ Zettel’s Traum, das an einem einzigen Sommertag spielt und hierzu 1.330 Seiten im Großformat aufwendet. Die psychoanalytisch grundierten Gespräche über Edgar Allen Poe, die die Handlung prägen, dienen allerdings nur als Aufhänger. „Zettel’s Traum ist ein Ozean für sich“, ein Wunsch- und Zauberbuch ganz eigener Art: „Verwandlungen finden statt, Ebenen überlagern sich, im Flirren des Textwerks verschieben sich die Bedeutungen.“ #5

Am 23. und 24. Juni 1969 kommt es zu eine Recherchereise „über die Elbfähre Wischhafen-Glückstadt mit Mittagshalt in Itzehoe nach Tellingstedt und Umgebung“; #6 Hintergrund ist das Buchvorhaben Die Schule der Atheisten. Schmidt, der schon vom 3–5. Juni 1963 in Schleswig-Holstein gewesen ist, dabei in Barlt das Haus von Gustav Frenssen und am letzten Tag die Landesbibliothek in Kiel aufgesucht hat, #7 sammelt nun gezielt Material und macht mit seiner Frau eine Reihe von Fotos. Dabei geht es um Gebäude, „u.a. die Schule, den alten Bahnhof, die Tankstelle neben dem Bahnhof sowie verschiedene Häuser am Kirchplatz und am Alten Markt. Die meisten dieser Häuser stehen heute noch und sind bei einem Ortsrundgang leicht zu identifizieren.“ #8 Tatsächlich ist Tellingstedt „in vielfältiger Weise geeignet, Handlungsort der Schule der Atheisten zu werden“, #9 dazu gehören etwa das geschlossene Ortsbild, die räumliche Lage und die Tatsache, dass es sich um „weitgehend unbeschriebenes Terrain“ handelt. #10 Alice Schmidt gefällt die Exkursion, sie schreibt in ihr Tagebuch:

Montag, 23.6. Um 8h Abfahrt zur Holstein-Reise. Heißer Tag. Erfrischung in gr. moderner Raststätte auf Autobahn. Fähre Wischhafen–Glückstadt. War wunderschön, die Überfahrt zu mittag. Spätes, aber billig & gutes Mittagessen in Itzehoe. Nachmittags dann in Tellingstedt. In ‚Traube‘ einquartiert. […] Fotoaufnahmen d. Ortes. Dann keinen Briefkasten f. Film gefunden.

Alice Schmidt: „Um 8h Abfahrt zur Holstein-Reise. Heißer Tag“ Tagebuch vom 23. und 24. Juni 1969. In: „Tellingstedt & der Weg dorthin“ Texte und Materialien zu Arno Schmidts „Die Schule der Atheisten“. Hrsg. v. Ulrich Klappstein & Heiko Thomsen. Dresden 2016, S. 23–24, hier S. 24.

Auch am Folgetag werden Bilder gemacht, schließlich geht es zur Eider. Das im Jahr 2014 spielende Buch erscheint 1972. Nach einer weltumspannenden Katastrophe werden die Reste europäischer Kultur in Tellingstedt aufbewahrt, doch die Enklave ist durch politische Entwicklungen in den USA und China bedroht. Einem cleveren Senator gelingt es aber, den Status quo zu erhalten. Schmidt kann nach der Schule der Atheisten mit der „MärchenPosse“ Abend mit Goldrand (1975) noch ein Spätwerk realisieren, bevor er mitten in der Niederschrift von Julia, oder die Gemälde einen Schlaganfall erleidet und am 3. Juni 1979 in Celle stirbt.

Schmidts Werk ist heute durch die zwischen 1986 und 2010 erschienene Bargfelder Ausgabe sowie zahlreiche weitere Editionen beispielhaft erschlossen. Dahinter steht die Arno Schmidt Stiftung, die 1981 von Alice Schmidt und Jan Philipp Reemtsma gegründet worden ist, um das Werk zu pflegen und das Anwesen in Bargfeld zu erhalten. Die Stiftung bietet auf ihrer Homepage u.a. „ein elektronisches Findmittel“ zur Bargfelder Ausgabe an und hat neben vielen weiteren Projekten den Dokumentarfilm Mein Herz gehört dem Kopf (2014) von Oliver Schwehm gefördert. Unabhängig hiervon existiert seit 1972 die Fachzeitschrift Bargfelder Bote, die von Jörg Drews begründet wurde und seit 2009 von Friedhelm Rathjen herausgegeben wird.

Zu den Auszeichnungen, die Schmidt erhalten hat, gehören der Große Literaturpreis der Mainzer Akademie für Sprache und Dichtung (anteilig; 1951), der Berliner Kunstpreis für Literatur (Fontanepreis; 1964) und der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main (1973). Seit 1977 ist Jan Philipp Reemtsma als Förderer Schmidts aufgetreten.

7.12.21 Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Alfred Andersch. In: Arno Schmidt, Bargfelder Ausgabe, Briefe, Bd. 1. Zürich 1985, S. 133.

2 Für alle biographischen Angaben vgl. den Lebenslauf Arno Schmidts [https://www.arno-schmidt-stiftung.de/Leben/Lebenslauf.html] sowie die Angaben in: Arno Schmidt. Eine Bildbiographie, hrsg. von Fanny Esterházy, Frankfurt am Main 2016.

3 Wolfgang Martynkewicz: Arno Schmidt. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 42.

4 Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik, Daten zu Leben und Werk, Südwesthörn 2021, S. 87.

5 Kai U. Jürgens: Ein Ozean von Roman. Nach 40 Jahren erstmals gesetzt: Arno Schmidts Buch der Bücher „Zettel’s Traum“. In: Kieler Nachrichten, 9. März 2011.

6 Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik, wie Anm. 4, S. 143.

7 Vgl. hierzu: Arno Schmidt: „Erst noch Ortsspaziergang – sehr lustig!“ Tagebuchnotizen zur Schleswig-Holstein-Reioe 1963. In: „Tellingstedt & der Weg dorthin“ Texte und Materialien zu Arno Schmidts „Die Schule der Atheisten“, hrsg. v. Ulrich Klappstein & Heiko Thomsen. Dresden 2016, S. 21–22.

8 Heiko Thomsen: Fotograf? – Allerdings! Arno Schmidts Fotos aus Tellingstedt. In: „Tellingstedt & der Weg dorthin“ Texte und Materialien zu Arno Schmidts „Die Schule der Atheisten“, hrsg. v. Ulrich Klappstein & Heiko Thomsen. Dresden 2016, S. 71–92, hier S. 81.

9 Heiko Thomsen: „Wie? –: ausgerechnet zu Uns, nach Tellingstedt!?“ Arno Schmidts Reisen nach Tellingstedt 1963 und 1969. In: „Tellingstedt & der Weg dorthin“ Texte und Materialien zu Arno Schmidts „Die Schule der Atheisten“, hrsg. v. Ulrich Klappstein & Heiko Thomsen. Dresden 2016, S. 45–64, hier S. 64.

10 Ebd., S. 63.